Deutschland, Frankreich
Oktober 2023
»We are going to Lyon. Check your route!« Zwei Brasilianer grinsen mir aus dem dunkelgrauen Citroën entgegen und halten wenige Meter entfernt am Kiosk des Rastplatzes an. Es ist Donnerstag, der 16.11., am frühen Mittag. Die Sonne strahlt kühl am wolkenlosen Himmel über dem Rastplatz an der A5. Ein perfekter Tag zum Trampen. Schnell laufe ich zu meinem Rucksack zurück und gebe den Namen der Stadt bei Google Maps ein.
Freiburg – Lyon… Eine der möglichen Routen führt über Chalon-sur-Saône.
Jackpot! Von dort aus könnte ich den lokalen Bus nach Taizé nehmen oder versuchen, die restlichen 40 Kilometer weiterzutrampen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen stecke ich mein »France«-Schild zur Seite und hieve meinen 25kg-Backpack zum Auto.
Die Reise beginnt!
Fünf Tage zuvor stehe ich mit Mama und meiner Schwester Leah auf dem Berliner Hauptbahnhof, bis oben hin bepackt. Abschiede fallen schwer, besonders, wenn es ein Abschied auf unbestimmte Zeit ist. Zum Glück habe ich ihn gestaffelt, mir wichtige Menschen noch einmal besucht, mir Zeit gelassen. Am Ende so viel Zeit, dass ich am Morgen meiner Abreise zwar schon alles bereitsgelegt, aber noch nichts in meinen Rucksack gepackt habe… Manche Dinge ändern sich nie. ;)
In mein Tagebuch schreibe ich: »Abschied fühlt sich nach Aufbruch an. Heimweh vermischt sich mit Fernweh, Reiselust mit Angst vor dem Unbekannten. Aber es fühlt sich gut an, nicht mehr zu warten.«
Von Berlin aus geht es mit dem 49€-Ticket nach Göttingen zu Luise. Das liegt auf dem Weg und wie wir es häufig tun, hatte ich schon lange versprochen, einmal vorbeizukommen und es doch nie realisiert. Jetzt habe ich endlich Zeit und die nehme ich mir auch.
Luise holt mich vom Bahnhof ab. Bis Montag schauen wir uns Göttingen an (wundervolle Altstadt!), die Unigebäude, Bibliotheken, backen Martinshörnchen, essen Falaffeln in Christians Geheimtipp-Falaffelladen und reden, reden, reden.
Von Göttingen aus geht es weiter in Richtung Tübingen zu
Judith – ebenfalls ein Besuch, der schon länger auf der Liste stand. Bereits am Abend kommt allerdings die Nachricht aus Göttingen: Ich habe meine Wanderstöcke dort stehen lassen. Das fängt ja gut an.
Es ist der Auftakt einer längeren Odyssee, aber dazu später mehr.
Mit Hilfe von Raphaela lasse ich die Stöcke erst einmal an die Adresse von Taizé schicken, mein erstes Ziel in Frankreich.
Tübingen ist eine wunderschöne Universitätsstadt, mit einem kleinen Markt in der Stadtmitte und dem Schloss auf einem der umliegenden Hügel (bester Spot für einen Rundumblick!). Wer einmal die paläontologische Ausstellung sehen möchte, sollte in das Geologische Institut gehen und kann sich dort einfach umschauen.
Die Tage vergehen mit Nähen, Basteln, interessanten Gesprächen mit Judiths Wohnheimmitbewohnern und bald darauf ist es wieder Zeit, meine Sachen zu packen und Abschied zu nehmen.
Weiter geht es nach Freiburg, wo ich bei Judiths & Luises Tante übernachten darf. Aus Krankheitsgründen werde ich zu einer Freundin derselben umquartiert – schlafe also bei der Freundin der Tante von Freunden. So schnell kann es gehen. :)
Es ist aufschlussreich, auf diesen Umwegen nette und hilfsbereite Leute kennenzulernen und ich werde auf der Reise noch häufig in den Genuss kommen, diese Art Menschen zu treffen.
Auf der Fahrt nach Freiburg komme ich mit einer jungen Theologiestudentin ins Gespräch. Sie kommt aus Berlin, wohnt nun aber Metzingen und ist auf dem Weg, evangelisches Pastorin zu werden. »Es ist schwer, von Zuhause fortzuziehen«, erzählt sie. »Aber mit den richtigen Menschen kann sich jeder Ort wie Heimat anfühlen.«
An jenem besagten Donnerstag möchte ich nun also nach Taizé trampen. Trotzdem plagen mich Unsicherheiten und vielleicht auch ein bisschen Angst. In Irland bin ich getrampt, ja. Aber das war meistens nicht aktiv und wir waren zu zweit. Dieses Mal bin ich als Backpackerin weit erkennbar und versuche mich zudem an der Autobahn. Das ist eine ganz andere Hausnummer als die kleinen Landstraßen in Connemara.
Doch kaum habe ich mich auf den Weg gemacht, um zur Raststätte »Schauinsland« an der A5 zu kommen, verfliegen diese Hemmungen. In mein Tagebuch schreibe ich: »Die Angst und die Unsicherheiten über meine weiteren Reisepläne sind an diesem Morgen mit Inkrafttreten derselben verflogen. Es passiert mir oft, dass ich Angst vor dem Unbekannten, Gewagten habe – bis ich es schließlich endlich ausführen kann.«
Eigentlich hatte ich mir vor dem Trampen eine Sicherheitsregel auferlegt: Ich steige nur ein, wenn Kinder, Frauen oder ältere Menschen mit drinsitzen. Sandro und Vanil, die nach nicht einmal einer Stunde Wartezeit anhalten, entsprechen keiner dieser Vorgaben. Trotzdem habe ich nach einem kurzen Gespräch ein so gutes Bauchgefühl, dass ich einsteige – und es keine Sekunde bereue.
Die Verständigung klappt halbwegs auf Englisch und ein wenig Spanisch, wir teilen unser Mittag, zeigen uns gegenseitig unsere Lieblingssongs und als wir uns schließlich Chalon-sur-Saône nähern, entscheiden sich die beiden dazu, mich hier nicht aussetzen zu wollen, sondern bis vor die Tore Taizés zu bringen.
Es hätte keine bessere erste Tramperfahrung auf dieser Reise geben können, der Abschied fällt herzlich aus, Kontaktdaten werden getauscht mit der Empfehlung, sich zu melden, sollte man es bis Brasilien schaffen.
Dann fährt der graue Kombi die Straße hinunter und verschwindet hinter der nächsten Kurve.
Ich stehe mit meinem Gepäck vor dem Schild mit der Aufschrift »Taizé«, inmitten von sandfarbenen Häusern und einem strahlend blauen Himmel. Mit einem Handgriff schultere ich meinen riesigen Backpack und folge der Straße hinauf zur Gemeinschaft.
Die erste Etappe ist geschafft.
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