Cascais, Huelva, Lanzarote, Gran Canaria, Sao Vicente
Januar 2024
Viel ist in den letzten Wochen passiert, sodass ich lange nicht dazu gekommen bin, einen weiteren Eintrag zu verfassen. Bevor es zu neuen Abenteuern geht, soll dies nun aber schnellsten nachgeholt werden.
Die letzten Tage im Daydreamer vergehen wie im Flug. Neben Yoga im Park, Filmabenden, umfangreichen Pancake-Produktionen und letzten „Santini“-Besuchen bleibt kaum Zeit, sich über die bevorstehende Abreise Gedanken zu machen. Irgendwann ist es dann aber doch so weit und mit dem wehmütigen Gefühl, ein Zuhause zu verlassen, mache ich mich am Freitag, dem 5.1.2024, auf den Weg zum Busbahnhof in Lissabon. Cascais und vor allem Luís nach all den wunderbaren Erlebnissen der letzten Wochen zu verabschieden, fällt schwer. Aber wer auf Reisen ist, den zieht es irgendwann immer weiter zu neuen Horizonten. Und in unserer globalisierten Welt sind weitere Besuche schon lange kein Hindernis mehr.
Mit dem Bus fahre ich nach Faro im Süden Portugals und anschließend nach Huelva, einer kleine Stadt an der spanischen Westküste. Von hier aus bedienen zwei Fährunternehmen die Strecke zwischen dem europäischen Festland und den Kanaren. Ich habe mir ein Ticket über Gran Canaria nach Fuerteventura gebucht, wo ich auf die Seglertruppe treffen möchte. Um Mitternacht sollen wir ablegen, vom „Haupthafen“, wie es auf meinem Ticket steht. Der liegt nur 8 Gehminuten vom Busbahnhof entfernt.
Perfekt, denke ich, als ich gegen 21 Uhr in Huelva ankomme. Ich schultere meinen Rucksack und laufe los.
Und laufe und laufe und laufe.
Das Hafengelände ist riesig, erstreckt sich über eine lange Straße und sieht in meinen Augen recht industriell aus. Kein Fähranleger in Sicht. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit und nach einigen Minuten Recherche sehe ich es bestätigt – in Huelva gibt es zwei Haupthäfen, einen in der Innenstadt und einen etwa 15km außerhalb. Und, oh Wunder, meine Fähre fährt natürlich von Letzterem ab. Kein Problem, überlege ich. Ich habe noch genügend Zeit, nur 20 Minuten Fahrtzeit sind es bis dorthin.
Ein Bus fährt allerdings nicht dorthin, ein Zug erst recht nicht. Bolt und Uber funktionieren hier ebenfalls nicht. José, ein zufällig vorbeikommender Einheimischer, hilft mir dabei, ein Taxiunternehmen zu erreichen. »Das ist hier sehr schwierig«, erklärt er mir – und soll Recht behalten.
22:30 Uhr. Das Taxi hätte schon vor 10 Minuten ankommen sollen. Ich werde unruhig und versuche, das Unternehmen noch einmal zu erreichen. »15 minutos«, plärrt mir eine Stimme entgegen und legt auf. Ich stehe auf der menschenleeren Straße am Innenstadthafen und setze mich mutlos neben meinen Rucksack.
23 Uhr. Mittlerweile bin ich vollkommen verzweifelt. Eine halbe Stunde vor Abfahrt sollte man spätestens eingecheckt haben. Mir bleiben noch 30 Minuten, um dorthinzugelangen. Wenn das Taxi in 10 Minuten nicht auftaucht, verpasse ich meine Fähre! In der Zwischenzeit habe ich bei allen möglichen weiteren Taxiunternehmen in der Stadt angerufen – ohne Erfolg. Entweder geht niemand ran oder es sind keine Kapazitäten frei. Bei »meinem« Unternehmen ist inzwischen Ersteres der Fall.
23:30 Uhr. Kein Taxi in Sicht. Aber vielleicht hat die Fähre ja Verspätung? Mutlos halte ich den Daumen raus, aber niemand hält an. Ich komme nicht von der Stelle.
Zehn Minuten vor Mitternacht halten schließlich Elena und Juan. »Do you need help?«, ruft Elena, die heute Geburtstag hat und gerade von einem Geburtstagsessen zurückkommt. Ich nicke etwas hilflos und scheinbar verzweifelt, denn kurze Zeit später rasen wir über die verlassene Landstraße. »Das schaffen wir noch!«, ruft Juan und drückt aufs Gas. Fünf Minuten nach Mitternacht stehen wir vor der Schranke des Fährhafens. Still und majestätisch thront ein riesiges Schiff am Anleger. Für einige Sekunden bin ich erleichtert, allerdings nur bis zu dem Moment, in dem der Einweiser den Kopf schüttelt, während Elena und Juan auf ihn einreden. »The ferry is gone«, übersetzt mir Elena entschuldigend. »You should’ve been here 30 minutes ago.« Völlig verzweifelt versuche ich noch, dem Mann klarzumachen, dass ich ohne Auto unterwegs bin und es kein großer Aufwand wäre, mich noch draufzulassen… aber keine Chance. Unverrichteter Dinge wenden wir uns fahren langsam in Richtung Huelva zurück.
Lange kann ich mich über dieses Unglück allerdings nicht ärgern, denn unvermittelt stehe ich vor einem neuen Problem: Es ist nach Mitternacht und ich habe keinen Schlafplatz. Denn der legt gerade im Hafen ab.
Zu allem Überfluss sind wegen des bevorstehenden Feiertags sämtliche Hotels entweder geschlossen oder ausgebucht, die Couchsurfer, die ich spontan noch anschreibe, sind unterwegs oder auf Reisen und die späte Stunde macht das Ganze auch nicht gerade einfacher.
Aber wie immer habe ich Glück im Unglück: Elena und Juan erweisen sich als wahre Engel. Bis 3 Uhr nachts fahren sie mit mir in der Stadt herum, klingeln sogar bei Frauenhäusern und Jugendclubs und telefonieren mit Freunden, bis ich endlich einen Schlafplatz finde. Als ich meine Bedenken bezüglich der späten Stunde äußere, zucken die beiden nur lachend mit den Schultern: »Wir haben ohnehin nichts mehr vorgehabt heute.« Wie schön, selbst in den ausweglosesten Situationen solche Menschen an seiner Seite zu wissen.
Am nächsten Morgen stehe pünktlich kurz nach Sonnenaufgang wieder an der Schranke vor dem Fährhafen und versuche, ein Ticket für die nächste Fähre zu bekommen. Nicht jeden Tag wird der Hafen bedient, aber in diesem Fall habe ich Glück – nächster Abfahrtstermin ist bereits heute Mittag. Und weil gerade keine Hauptreisezeit ist, gibt es noch ausreichend Tickets. Im ersten Moment möchte ich wieder bis nach Gran Canaria buchen, um dort eine weitere Fähre bis nach Fuerteventura zu suchen. Als die Dame am Schalter allerdings Lanzarote erwähnt, werde ich hellhörig. Lanzarote? Das ist die Insel, die meinem Ziel am nächsten ist. Außerdem ist es die erste Insel, die angefahren wird, ich würde bereits Sonntagmittag ankommen, nicht erst in der Nacht, wie es bei Gran Canaria der Fall wäre. Kurzerhand ändere ich meine Pläne und halte zwei Minuten später ein Ticket nach Arrecife in der Hand. Dass diese Sekundenentscheidung den Verlauf meiner gesamten Reise beeinflussen wird, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
Zunächst aber fällt alle Anspannung der letzten 24 Stunden mit einem Mal von mir ab, als ich mich endlich auf meinem Platz niederlassen kann. Die billigste Preisklasse beinhaltet einen Sitzplatz, auf dem man während der 27-stündigen Fahrt theoretisch auch schlafen wird. Allerdings sind um diese Jahreszeit so wenige Menschen an Bord, dass ich mehrere Sitzreihen für mich beanspruchen könnte. Den Platz nehme ich dankbar mit meinem Gepäck in Anspruch. Abends rolle ich meine Isomatte neben den anderen im Saloon zwischen den Sitzmöbeln aus und verbringe eine unerwartet komfortable Nacht, die vom sanften Schaukeln der Wellen begleitet wird.
Die Kanarischen Inseln sind eine Gruppe von sieben Hauptinseln und mehreren kleineren Inseln vor der Nordwestküste Afrikas, die zu Spanien gehören. Die Hauptinseln sind Teneriffa, Fuerteventura, Gran Canaria, Lanzarote, La Palma, La Gomera und El Hierro. Diese Inseln bieten eine beeindruckende Vielfalt landschaftlicher Schönheit, von vulkanischen Landschaften über üppige grüne Täler bis hin zu goldenen Sandstränden.
Jede der Hauptinseln hat ihren eigenen Charme und ihre eigenen Attraktionen. Teneriffa ist bekannt für den höchsten Berg Spaniens, den Teide, sowie für lebhafte Ferienorte wie Playa de las Américas. Fuerteventura ist berühmt für ihre endlosen Sanddünen und Windsurf-Möglichkeiten. Gran Canaria lockt mit pulsierenden Städten wie Las Palmas und dem malerischen Bergdorf Teror.
Als ich am folgenden Tag die Fähre im sonnigen Arrecife verlasse, erwarten mich zwei Nachrichten auf dem Handy: 1. Die Seglertruppe auf Fuerteventura ist eigentlich eine Chartertruppe und möchte wöchentlich mehrere hundert Euro für die Überfahrt haben. 2. Sie sind außerdem plötzlich doch schon voll, man wünsche mir aber trotzdem viel Erfolg mit der Überquerung. Na toll.
Nun stehe ich also hier, auf Lanzarote, und muss nun doch nicht nach Fuerteventura. So schnell kann sich der Plan also ändern. Was nun? Am besten sollte ich nach Gran Canaria gehen, von wo aus man laut meinen Informationen aus Hitchhiker-Kreisen die besten Chancen auf einen Lift über den Atlantik hat. Die Fähre dorthin ist aber soeben wieder abgefahren. Das sicherstes scheint mir zunächst, eine Nacht in Arrecife zu bleiben und mein Glück kurz dort zu versuchen, bevor die nächste Fähre nach Gran Canaria geht.
Um einen Schlafplatz bangen muss ich hier zum Glück trotzdem nicht. Bereits mit Eintreffen der Nachricht, ich würde am Sonntag Lanzarote erreichen, hat Luís seinen Seglerfreund Ian kontaktiert, der hier gerade mit seinem Boot Naomi in der Marina liegt. Klar könne ich bei ihm unterkommen, kam die Antwort postwendend zurück. Als ich mich durch die pralle Sonne vom Hafen zur etwa 1h entfernten Marina schleppe, kommt Ian mir sogar mit einem Taxi entgegen und sammelt mich auf.
Am Abend sitze ich daher in einem gemütlichen kleinen Boot, schäle Kartoffeln für »das beste britische Stew, das du jemals gegessen haben wirst« und quatsche mit Ashley, einem weiteren Briten, dem infolge eines kleinen Konflikts sein Pass (und alles andere) abhanden gekommen ist und der von Ian in gewisser Weise »gerettet« wurde. Bis zur Ausstellung seines vorläufigen Passes wohnt er ebenfalls hier.
Von außen müssen wir eine seltsame Wohngemeinschaft abgeben, ein wenig willkürlich zusammengewürfelt. Aber dennoch merke ich bereits in den ersten Minuten unseres Aufeinandertreffens, von herzensguten Menschen umgeben zu sein. Und auch wenn man vielleicht nicht immer einer Meinung ist und dieselben Ansichten vertritt – so manche politische Debatte lief da nicht nach meinen Vorstellungen – so ist es doch inspirierend, neue Positionen kennenzulernen und in manchen Fällen auch das erste Mal zu versuchen, sie nachzuvollziehen - auch oder gerade weil es schwerfällt.
»Na, was machst du hier?« Verwirrt schaue ich mich um, auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme, die mich gerade aus meinen Überlegungen, wie es weitergehen soll, gerissen hat. Schnell entdecke ich zwei Personen auf dem Schiff neben mir, die gerade ein langes, engmaschiges Netz an der Reeling befestigen. Die beiden Schweizer, Rolf* und Alain, sind alte Freunde und haben bereits in jungen Jahren mehrere Jahre auf Lanzarote verbracht. Diese alten Geschichten sollen nun wieder aufgewärmt werden.
Ich erzähle von meiner Reise und meinen Plänen. »Na, das trifft sich ja«, erwidert Rolf, als ich meine Ausführungen beende. »Ich bin auf dem Weg über den Atlantik zusammen mit Ginger«, er deutet auf den Schweizer Pudel, der träge auf dem Steg in der Sonne liegt, »und vielleicht nehmen wir noch ein, zwei Leute mit. Segelerfahrung… Ja, ist nicht dringend notwendig, aber lernfähig sollte man sein.« Mein Herz macht einen Sprung. Könnte es sein…? Ich bekunde mein Interesse und kehre mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht zur Naomi zurück. Ashley und Ian beglückwünschen mich zu meinem schnellen Erfolg und schnell ist klar, dass ich auch für ein paar weitere Tage willkommen bin, bis sich herauskristallisiert hat, ob sich aus dem Schweizer Angebot etwas ergibt.
Alain reist bereits am Tag nach unserem Kennenlernen ab, dafür kommt Tom an, ein alter Segelkumpan von Rolf, der sich für die Etappe über den Atlantik angemeldet hat. Tom ist genau so, wie man sich einen gutmütigen Schiffskoch vorstellt, hat 30 Jahre lang auf einem Segelboot im Mittelmeer und Roten Meer Charter gefahren und eine Tauchschule in Ägypten geleitet. Ein gutmütiger Mann Anfang Sechzig, der schon einiges in seinem Leben gesehen hat und mit dieser Ruhe auch durch den Tag geht. Rolf hingegen kann ich nicht so gut einschätzen. Manager im Ruhestand, kann aber keine eindeutigen Aussagen treffen. So sehe ich relativ wenig von der Insel und verbringe die Tage stattdessen im Hafen und zumeist auf dem Pontoon, um Präsenz zu zeigen und mich als Mitseglerin in Erinnerung zu rufen.
Den Rest der Zeit verbringe ich mit meinen beiden Briten, deren Gesellschaft nicht unterhaltsamer und erfrischender sein könnte. Ian tobt sich in der Küche aus und beweist mir, dass Britischer Frühstückstee sehr wohl ohne Milch und Zucker genießbar ist und Ashley, der ständig in Trubel gerät, ziehen wir nicht nur einmal aus dem Wasser. So bin ich schon ein wenig traurig, als mir Rolf am Donnerstagabend überraschend mitteilt, morgen abfahren zu wollen und mir anbietet, mich mitzunehmen. Der Zeitpunkt könnte nicht unpassender sein, denn inzwischen habe ich den französischen Kapitän eines Katamarans kennengelernt, der eine Überführungsfahrt in die Karibik durchführt und dem erst heute ein Teammitglied überraschend abgereist ist. Damit ist einer der drei Plätze frei geworden, aber zunächst möchte er die Antwort einiger Seglerfreunde abwarten. Weil die Abreise in den nächsten Tagen geplant ist, soll dies aber bis Freitagabend abgeschlossen sein. Einen Tag länger hätte ich noch gebraucht! Denn der französische Kapitän ist mir unglaublich sympathisch, während mir das Schweizer Boot doch ein wenig Bauchschmerzen bereitet. Weil ich dort den Platz aber einigermaßen sicher habe, entscheide ich mich für die Abreise – und werde mich für immer fragen, wie die Sache mit dem Franzosen ausgegangen wäre.
Zunächst aber ziehe ich am Freitagmorgen mit Sack und Pack auf das 49 Fuß lange Aluminiumboot Pepa. Kurz vor Mittag legen wir ab. Ian und Ashley stehen am Steg und tröten – eine Tradition, die eigentlich nur vor langen Überquerungen praktiziert wird, aber da es für uns ein Abschied auf unbestimmte Zeit ist, bekomme ich trotzdem Gänsehaut. Ich werde sie schon vermissen, meine beiden Briten.
Wir sind zunächst nur auf dem Weg nach Playa Blanca, einen Ort im Süden von Lanzarote. Von dort aus wollen wir am nächsten Tag nach Las Palmas auf Gran Canaria übersetzen, um dort auf den richtigen Wind für die Überfahrt auf die Kap Verden zu warten.
Kurz nach der Abfahrt gehen Tom und ich unter Deck, um noch einmal die Luken auf Geschlossenheit zu überprüfen. »Bist du denn seefest?«, fragt Tom mich noch und ich antworte großspurig: »Also, bist jetzt hatte ich noch nie Probleme!« Unwichtig zu erwähnen, dass sich meine bisherigen Segelabenteuer auf erheblich größeren Flaggschiffen abgespielt haben, die sich deutlich ruhiger im Wasser bewegen.
Lange Rede, kurzer Sinn – für die restlichen fünf Stunden hänge ich an der Reeling und »füttere Fische«. Seekrankheit ist grauenhaft und gerade bei der rauen See an diesem Tag schlägt sie besonders hart zu. Dennoch schlage ich mich tapfer, sagt Tom, er habe schon Leute gesehen, die nur noch apathisch auf der Koje lagen, unfähig, ohne Schmerzen berührt zu werden. Tapfer fühle ich mich nicht unbedingt und bin unendlich froh, als wir endlich den rettenden Hafen erreichen und ich mit Halsschmerzen und kraftlosen Gliedern endlich wieder festen Boden unter mir spüre.
Am nächsten Morgen ist Rolf ein wenig krank, weshalb entschieden wird, den Aufenthalt auszuweiten. Inzwischen hat sich meine Intention weiter bestätigt – irgendwie habe ich ein schlechtes Gefühl an Bord, vor allem im Bezug auf den Kapitän. Der ist zwar unglaublich erfahren, tritt aber zuweilen cholerisch auf, macht keine klaren Aussagen und wiederholt ständig, ohne dass es nötig wäre, dass er mich ja jederzeit von Bord schmeißen könne. Inzwischen bereue ich es, die Antwort des französischen Kapitäns nicht abgewartet zu haben, aber als ich diesen anschreibe, erhalte ich nur ein Bild von der lanzarotischen Küste – sie sind inzwischen abgefahren und segeln ohne Zwischenstopp auf die Kap Verden. Ob er mich mitgenommen hätte, werde ich nie erfahren.
Zwischenzeitlich überlege ich sogar, einen Bus zurück nach Arrecife zu nehmen und auf gut Glück ein neues Boot zu suchen. Letzten Endes sitze ich die Situation dann doch aus, habe Sorge, zu diesem späten Zeitpunkt niemanden mehr zu finden. Ich bleibe, immerhin ist Tom eine wunderbare Gesellschaft.
Wenige Tage später setzen wir dann innerhalb von etwa 17h nach Gran Canaria über.
Diese Überfahrt überstehe ich deutlich besser als die vorherige, auch wenn meine Aufgabe hauptsächlich darin besteht, neben dem Cockpit im Wind zu sitzen und den Horizont zu fixieren.
Als wir am Dienstag in Las Palmas ankommen, sehen die Wetterbedingungen für den nächsten Freitag günstig aus. Also wieder ein paar Tage Aufenthalt. Mein schlechtes Gefühl ist noch immer da und so schaue ich mich währenddessen nach einer anderen Mitsegelgelegenheit um. Boote gibt es viele, zudem viele, die über den Atlantik wollen. Allerdings sind die meisten schon voll und ich treffe eine Menge weiterer Hitchhiker, die bereits seit Wochen suchen. Nicht gerade die optimalen Bedingungen. Sie verleiten mich dazu, auf dem Schweizer Boot zu bleiben. Vielleicht könne ich ja aus dem schwierigen Charakter etwas lernen, versuche ich mir zu sagen und ertrage die Stimmungsschwankungen und Seitenhiebe weiterhin. Durch die ständige Drohung, von Bord geworfen zu werden, versuche ich, jederzeit vor Ort zu sein, um bei möglichen anfallenden Arbeiten helfen zu können. Dadurch verpasse ich es, wie schon auf Lanzarote, mehr von dem Ort zu sehen, an den mich meine unvorhersehbare Reise geführt hat.
Immerhin zu den Dünen von Maspalomas im Süden Gran Canarias, die mir mein Bruder Aaron empfohlen hatte, mache ich mich am Mittwoch auf. Hinter den Touristenhochburgen erstreckt sich dort eine kleine heiße Wüste, die man in etwa einer halben Stunde in ihrer Breite zum Meer durchlaufen kann. Die Südspitze wird von keinerlei anderen Inseln geschützt, sodass mir beim Schwimmen zum ersten Mal bewusst wird, wie stark und unberechenbar Strömungen sein können. Von diesem Ausflug gut gestimmt, kehre ich an diesem Abend mit guter Laune aufs Boot zurück und unterhalte mich stundenlang mit Tom, der einige Seglergeschichten zum Besten geben kann und bereits eine Menge verrückter Personen getroffen hat. »Einmal ist mir vor der Küste Somalias einer begegnet«, erzählt er mir, »dessen Boot war so klein – wenn er sich schlafen gelegt hat, haben seine Füße aus der Kajüte rausgeguckt. Gekocht hat er auf einem Gaskocher und gepinkelt in einen Eimer. Und so ist er um die Welt gesegelt. Ja, so habe ich auch geguckt.«
Am Donnerstagabend sagt eine weitere Mitseglerin, die Rolf anwerben wollte, überraschend ab, sodass noch am Freitagabend Rico zum Tee eingeladen wird. Rico ist ein paar Jahre älter als ich, autodidaktischer Softwareentwickler, kommt zufälligerweise auch aus Berlin und ist mit einem australischen Boot von Marokko aus hierher getrampt. Die können ihn nun aus Platzgründen leider nicht weiter mitnehmen, sodass er auf der Suche nach einer weiteren Mitsegelgelegenheit ist. Trotz der kurzen Kennlernzeit ist er mir sofort sympathisch und als Rolf verkündet, ihn mitnehmen zu wollen, freue ich mich riesig, auch ob des gesunkenen Altersdurchschnitts in der Crew. ;)
Jeden zweiten Sonntag veröffentlicht Rico auf seinem Blog https://www.trebeljahr.com/ eine Newsletter, gefüllt mit Buchempfehlungen, interessanten Neuerungen, die die Welt bewegen (beispielsweise im Bereich der KI), Fotos und Geschichten. Ähnliches lässt sich in größerem Umfang auch beim Durchstöbern der Blogbeiträge finden. Reinschauen lohnt sich! ;)
Am späten Samstagnachmittag starten wir dann endlich in Richtung der Kap Verden. Die ersten zwei Tage über haben wir starken Wind von 40 Knoten und machen mit lediglich halb ausgerollter Genua 8 Knoten Fahrt. Die Wellenberge sind riesig, trotz des großen Schiffes fühlt es sich manchmal an, in einer Nussschale zu sitzen. Gerade in diesen ersten zwei Tagen erwischt mich die Seekrankheit wieder hart. Die meiste Zeit verbringe ich deshalb draußen, halb im Delirium, halb wachend, und »unterhalte« unser neuestes Crewmitglied, indem ich es mit Fragen bombardiere. So erfahre ich von herzlichen Städten in Indien, verlassenen Inseln in Indonesien und jeder Menge Reisepläne. Während der Nachtwache kuschle ich mich draußen im Cockpit in meinen Schlafsack und habe von dort aus einen grandiosen Blick auf den Sternenhimmel. In diesen ruhigen Stunden an der frischen Luft lässt sich auch die Seekrankheit aushalten.
Als ich am Morgen des dritten Segeltages morgens an Deck komme, ist es spürbar wärmer geworden. Von nun an werden die Jacken und T-Shirts, die wir zuvor wegen des kühlen Windes noch getragen hatten, von Tag zu Tag weniger. Auch für Zerstreuung ist gesorgt – neben Klimpereien auf meiner Ukulele, langen Gesprächen während der Wache, Steuern am riesigen Steuerrad und Studien in Rolfs Segelbüchern entdecken wir hin und wieder Delfinschulen, die das Boot begleiten. Stundenlang können wir vorne am Bug stehen und die grauen, nassglatten Körper bewundern, die im Sekundentakt aus dem Wasser gleiten und sich von Ginger anbellen lassen.
Wie fühlt sich das eigentlich an, seekrank zu sein? Nun, davon kann ich nun aus erster Hand berichten... Die Seekrankheit (auch Reisekrankheit oder fachsprachlich Kinetose) wird durch unzureichende Schwingungstilgung eines Fahrzeuges und der damit einhergehenden widersprüchlichen Informationsübertragung zur räumlichen Lage und Bewegung des Körpers unserer Sinnensorgane ausgelöst. Nicht jeder leidet darunter. Manch einer muss sie nie erfahren, manch einer nur für einen Tag ertragen, für eine Woche, nie darüber hinwegkommen... Dies unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und ist nicht vorhersagbar. Betroffene leiden unter Blässe, Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Schweißausbrüchen und Erbrechen. Man erzählte mir auch von Leuten, die nur noch apathisch unter Deck lagen und bei Berührung aufschrien, bei Langstreckenfahrten hört man Schauergeschichten des Festbindens, da der Kranke lieber ins Wasser sprünge, als weiter zu leiden. Abhilfe verschafft das Fixieren des Horizonts, Schlafen (am besten mittschiffs, zwischen Bug und Heck), Essen, Ingwer kauen, Reisetabletten einnehmen und Atmung kontrollieren.
Ich persönlich bin nie ganz über die Seekrankheit hinweggekommen, habe sie aber immer schwächer wahrgenommen und damit zu leben gelernt. Für mich fühlt sie sich an wie eine lange, kurvenreiche Busfahrt in den Bergen, aus der ich nicht einfach nach einer Stunde aussteigen kann. Viel an der frischen Luft aufhalten und, wenn möglich, das Schiff selber steuern haben mir erfahrungsgemäß am besten geholfen.
Am vierten Tag auf See wird es plötzlich diesig. Der Himmel verdunkelt sich, allerdings nicht wegen eines Sturms. Im Gegenteil – mit jedem Sonnenaufgang schwächt der Wind auf unserer Reise ab, als würde ihm der Atem ausgehen. Stattdessen bringt der stetige Ostwind nun Sand aus der Sahara mit sich, der die weißen Reelingnetze und Segel rotbraun färbt. Dieses Phänomen wird bruma seca (portugiesisch für »trockener Nebel«) genannt und tritt bis zu 10x im Jahr auf. Für die Gegend um die Kap Verden ist er typisch, der Flugbetrieb muss regelmäßig eingestellt werden und die Leute trugen schon vor Corona Masken, um ihre Lungen vor dem Feinstaub zu schützen.
Mit dem ruhigeren Seegang geht es mir glücklicherweise etwas besser und auch den frisch gefangenen Fisch kann ich beim Essen genießen. Allerdings verschlechtert sich die Stimmung an Bord zusehends. Der Kapitän traktiert uns mit seiner herrischen Art, nichts kann man richtig machen. In der Luft liegt ständig die Gefahr der Eskalation. Irgendwann habe ich Angst, nur irgendetwas an die falsche Stelle zu legen und damit Ärger zu kassieren. Kurz bevor wir die Kap Verden erreichen, schreibe ich Ian und schildere meine Lage. Postwendend kommt die Antwort: »Rebecca, geh in Mindelo von Bord. Das Leben ist zu kurz für schlechte Gesellschaft.«
Am 26.1.2024 tauchen nach sechs Tagen auf See die Berge Sao Vicentes aus dem mystischem Nebel auf. Ich fühle mich dreckig, habe seit unserer Abfahrt nicht mehr geduscht und wegen meiner Seekrankheit nur unzureichend »Katzenwäsche« betreiben können. Das Anfahren des Kapitäns nehme ich nur noch gleichgültig hin, fühle mich etwas abgestumpft, müde, über die schlechte Stimmung deprimiert. Irgendwann zwischen Ankerfall und erstem Landgang entscheide ich endgültig, das Boot zu verlassen, hatte Rolf nicht ohnehin schon vage angedeutet, uns alle während des Aufenthalts in Mindelo nicht an Bord haben zu wollen, um »nachzudenken«. Meine Ankündigung nimmt er dennoch verwirrt entgegen und kann auch meine geschilderten Beweggründe nicht nachvollziehen. Wie auch immer. Meine Entscheidung steht und das erste Mal seit zwei Wochen kann ich wieder zuversichtlich in die Zukunft blicken.
Einen Tag nach unserer Ankunft verlasse ich Pepa. Und bin nach 78 Tagen Reise in Afrika angekommen.
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*Name geändert
Photos by @ricotrebeljahr.com
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