Frankreich & Andorra
November 2023
Zusammen mit Elisabeth verlasse ich am Mittwoch, dem 22.11., Taizé. Mit dem Bus fahren wir nach Macôn und stellen uns in der Nähe eines Parkplatzes an die Straße.
Wir sind aufgeregt. Das erste Mal zusammen Trampen. Grinsen, schießen Fotos und langweilen uns ein wenig. Es läuft etwas schleppend an.
Wir wechseln zu einer anderen Stelle. Keine 10 Minuten später sitzen wir bei Etienne im Auto. Er habe uns am Straßenrand gesehen und sich gedacht, hier werden wir wohl nicht so schnell wegkommen, gesteht er uns. An einem Café nahe der Autobahnauffahrt in Richtung Lyon werden wir mit den besten Wünschen abgesetzt und können tatsächlich nur wenige Minuten später bei einem Geschäftsmann einsteigen, der uns bis kurz vor Lyon mitnimmt.
Truckfahrer Jeremy sammelt uns von einem Parkplatz auf und fährt uns ins Zentrum Lyons – ein Fehler, wie wir später feststellen, denn es ist schwer, aus solchen großen Städten wieder hinauszutrampen. Zu dicht ist der Verkehr, zu gering die Anzahl der Autofahrer, die weitere Strecken fahren.
Nachdem uns die Securidad freundlich einige Meter weitergeschickt hat, werden wir von einer jungen Mutter mitgenommen, die uns zu einer mehrspurigen Straße neben der Rhône fährt. Obwohl es ein besonders schönes Viertel Lyons ist, verlässt uns langsam der Mut. Die Haltemöglichkeiten sind nicht gut, es ist bereits kurz vor 15 Uhr und wir sind noch immer 4 – 5h von Carcassonne, unserem Tagesziel, entfernt. Dort haben wir bereits eine Schlafmöglichkeit. Über Couchsurfing hatte ich an diesem Morgen Taras angeschrieben, der einige Kilometer außerhalb von Carcassonne in einem Hotel wohnt. Als ich ihm schreibe, dass wir noch immer in Lyon feststecken, glaubt er schon nicht mehr daran, uns heute noch zu sehen.
Couchsurfing ist eine App und Website, die es Reisenden ermöglicht, kostenlos bei Einheimischen zu übernachten. Das Ziel der Plattform ist der kulturelle Austausch. Reisende können nach verfügbaren Unterkünften suchen, Kontakt mit Gastgebern aufnehmen und Übernachtungen arrangieren. Gastgeber bieten ihre Couch, ein freies Zimmer oder sogar eine ganze Wohnung an. Die Community basiert auf Vertrauen und sozialem Austausch, wobei Nutzer ihre Erfahrungen und Bewertungen teilen, um die Sicherheit und Qualität der Plattform zu gewährleisten. Seit die App vor einigen Jahren an einen Konzern verkauft wurde, der Gebühren für die Registrierung und Verifizierung einführte, sind viele der ursprünglichen Nutzer allerdings abgesprungen. Die Hochzeit der App ist vorbei.
Nachdem wir es eine Dreiviertelstunde erfolglos an der mehrspurigen Straße probiert haben, schlägt Elisabeth vor, unser Glück an einer anderen Stelle zu versuchen. Zuerst widerstrebt es mir, die Stellung aufzugeben, vermute ich doch hinter jeder nächsten Ampelphase endlich den ersehnten Lift.
Letztendlich kann mich Elisabeth doch davon überzeugen, mit dem Linienbus ein wenig aus der Stadt herauszufahren. Wir positionieren uns an einer kleineren Auffahrt und warten.
»Goodbye! Adiós! La revedere!« Wir werden noch einmal umarmt, dann steigen unsere heutigen Engel wieder in ihr Auto und verschwinden in der Dunkelheit. Die beiden Rumänen waren unterwegs von Lyon nach Toulouse, um ein Auto zu kaufen und haben uns nicht nur 5 Stunden lang mitgenommen, sondern gleich noch keine zwei Minuten von unserem Couchsurfer-Host entfernt abgesetzt.
Elisabeth und ich schauen uns an und können unser Glück kaum fassen. Nachdem wir mit 4 Autos gerade einmal bis Lyon gekommen sind, haben wir es jetzt mit nur einem bis nach Carcassonne geschafft!
Und es wird noch besser: Taras, unser Gastgeber, bringt uns im Hotel seiner Mutter unter, bekocht uns liebevoll mit allerlei Leckereien und verwickelt uns in eine philosophische wie Lebensentscheidungen betreffende Debatte. Es geht um seine Ängste, wie er zu einem Kloster gepilgert ist und sich den Rücken gebrochen hat; seine Träume, wie er sich zugleich das Reisen wünscht aber gleichzeitig ein Haus mit großem Garten irgendwo auf dem Land; um seine Spiritualität, wie er seine »spirituelle Lehrerin« gefunden hat, eine Person, die in unser Leben kommt, wenn wir bereit dafür sind und die uns lehrt, loszulassen und zu leben; von Claudia, auf deren Hof er zwei Monate gelebt hat, die eine Art Großmutter und Freundin für ihn ist.
Manchmal ist Taras fröhlich, ein Glanz liegt in seinen Augen, wenn er von seinen Plänen erzählt. Dann wieder ist dort Trauer, wenn es um Rückschläge geht. Und Zerrissenheit, als er seine Umgebung betrachtet und sich daran erinnert, wie es ihn immer wieder hierher zurückzieht, egal wie oft er versucht, diesen Ort hinter sich zu lassen. Er wirkt auf mich gebrochen, aber gleichzeitig voller Ideen und Zuversicht für die Zukunft. Ein ambivalenter Geist, wie man ihn wahrscheinlich nur selten findet. Wir sind froh, ihn getroffen zu haben.
Am Nachmittag des nächsten Tages entscheiden wir uns nach einem Besuch der alten Stadt und Burg von Carcassonne, weiter in Richtung Lourdes zu trampen. Der Entschluss fällt uns nicht leicht, hatte Taras uns doch angeboten, noch länger zu bleiben. Allerdings haben wir uns für den Abend schon bei Magali angemeldet, der Französin, die ich damals in Irland kennengelernt hatte. Sie fährt über das Wochenende weg, deshalb müssen wir es bis heute Abend zu ihr schaffen.
Taras blickt uns traurig und zugleich freundlich nach, als wir die Straße wieder hinunter in Richtung Autobahnauffahrt laufen. »Manchmal können die unscheinbarsten Seelen die gütigsten Herzen haben.«
Ein Baumbeschneider nimmt uns schließlich einige Kilometer in Richtung Toulouse mit. Auf dem Parkplatz, auf dem er uns absetzt, kommen wir mit einem Manager ins Gespräch, der auf dem Weg nach Lourdes ist – wieder Glück gehabt! Er spricht zwar nur Französisch, aber mithilfe von Elisabeths Sprachkenntnissen halten wir das Gespräch eine Weile aufrecht, in welchem er uns mehrfach freundlich als »diese verrückten Mädchen« bezeichnet und Elisabeth am Ende seine Visitenkarte in die Hand drückt… nur für den Notfall.
Magali holt uns von der Autobahnausfahrt ab. Wir schlafen in ihrer Wohnung in Tarbes, einer etwas größeren Stadt nahe Lourdes, die wir uns am nächsten Vormittag angucken, während Magali bei einem Berufsorientierungsgespräch ist. Am Nachmittag nehmen sie und ihr Vater uns mit nach Lourdes, fahren uns einmal durch den Ort und setzen uns schließlich vor dem Eingang zum Wallfahrtsort ab – die berühmte Grotte von Massabielle, wir sind da.
Bekanntheit erlangte Lourdes durch Bernadette Soubirous, einer jungen französischen Frau, die im Jahr 1858 in der Nähe des Ortes mehrere Erscheinungen der Jungfrau Maria in der Grotte von Massabielle erlebte. Während dieser Erscheinungen empfahl ihr die Jungfrau Maria die Quelle in der Grotte, die später zu zahlreichen Heilungen führte. Sie wurde infolgedessen zu einem bedeutenden Wallfahrtsort – heute ist Lourdes weltweit bekannt für seine Pilgerfahrten.
Es dämmert langsam. Wir werfen einen Blick in die Kirche, deren Schönheit mir den Atem verschlägt. Danach nähern wir uns der Grotte, in der gerade ein spanisches Rosenkranzgebet stattfindet. Wir stellen uns dazu, friedlich und ruhig gestimmt durch den monotonen Singsang der Priester, das flackernde Kerzenlicht und den Anblick der kleinen, berühmten Grotte.
Die Quelle selbst ist hinter einer Glasplatte versteckt, was uns ein wenig enttäuscht. Zum Glück hat uns Magali zum Abschied je ein kleines Fläschchen mit Grottenwasser geschenkt, sodass wir dennoch einen kleinen Talisman mitnehmen können.
Noch lange nachdem der Gottesdienst vorbei ist, sitzen wir dort und singen leise ein paar Taizé-Lieder. Eine vorbeigehende Nonne stimmt kurz mit ein und bringt uns zum Lächeln.
Irgendwann ist es ganz dunkel. Für die heutige Nacht haben wir noch keinen Schlafplatz. Keine Idee, wo wir unser Zelt aufstellen sollen. Trotzdem sind wir beide unglaublich gelassen. Ein tiefes Vertrauen, immer irgendwo etwas zu finden, hat sich in uns breit gemacht.
Und wir liegen richtig.
Irgendwann komme ich mit einem jungen Mann ins Gespräch. Vishal stammt aus Indien und lebt seit einigen Monaten in Lourdes. Als er hört, dass wir noch keine Unterkunft haben, bietet er uns kurzerhand an, bei ihm zu schlafen.
Nachdem wir uns ein kurzes Bild von ihm gemacht haben und beide Vertrauen verspüren, sagen wir zu. Da eröffnet er uns, ein Restaurant zu besitzen, welches er uns noch einmal aufschließt, um indisches Essen aufzuwärmen, damit wir etwas zum Abendessen haben.
Dankbarkeit beschreibt mein Gefühl nicht annähernd.
Durch die dunkeln Straßen von Lourdes, welches um diese Jahreszeit nur von wenigen Touristen bevölkert wird, wandern wir langsam zu Vishals Wohnung. Unterwegs kommen wir an einer großen Halle vorbei, aus der lautes Gebrüll und Gesänge herausschallen. Interessiert nähern wir uns und sehen durch die Fensterscheiben ein Basketballspiel zwischen den Vereinen von Lourdes und Tarbes. Ein Familienevent, wie es scheint, denn sogar Babys sind unter den Zuschauern. Kurzerhand setzen wir uns dazu, obwohl keiner von uns so richtig etwas mit Basketball am Hut hat, und lassen uns von der guten Stimmung mitreißen.
Dadurch spät geworden, erreichen wir erst gegen 23 Uhr Vishals Wohnung. Sein afghanischer Mitbewohner Abdul Manjeed kommt neugierig aus seinem Zimmer undkocht afghanischen Te. Wir sitzen noch lange zu viert in Vishals Zimmer, trinken Tee und unterhalten uns.
Bei unserem Abschied am nächsten Tag bleiben wir mit den Jungs freundschaftlich verbunden und erkundigen uns auch später noch nach dem Wohlbefinden der anderen. Vor allem Vishals Nachricht »Dinner finished?« kommt verlässlich jeden Abend – man könnte seine Uhr danach stellen! :)
Nach Lourdes wollen wir endlich in die Berge, die Magali schon auf dem Hinweg als »die schönsten der Welt« beschrieben hat.
Kurz vor einem Kreisverkehr werden wir von Greg mitgenommen, der eigentlich gar nicht in unsere Richtung muss, aber früher selbst viel getrampt ist (»Den Senegal kann ich euch ans Herz legen. Afrika hat eine ganz eigene Trampkultur!«) und gerade viel zu viel Zeit hat. Er setzt uns in Argelés-Gazost ab, wo wir uns mit einem Crêpe stärken und kurze Zeit später von Greg (wieder!) und Fannie mitgenommen werden, zwei französischen Touristen, die ebenfalls in den Bergort Cauterets wollen.
Wie so oft ist nicht viel los. Die Sommersaison ist zu Ende, die Wintersaison hat noch nicht begonnen. Wir genießen diese Zwischensaison, tummeln sich doch nicht überall Menschenmassen auf den Straßen und in den Geschäften.
Von Cauterets aus wandern wir los in die Berge. In den Pyrenäen gibt es zahlreiche kleine Schutzhütten, in denen man kostenlos übernachten kann – dafür sind sie sehr spartanisch eingerichtet. Wie spartanisch, das sehen wir einige Stunden später, als wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit vor einem alten Stall stehen.
»Ist es das?«, fragen wir uns gegenseitig ein wenig ungläubig. Auf den Bildern war ein Steinhaus zu sehen gewesen. Dieses steht auch tatsächlich neben dem Stall, ist aber abgeschlossen. Wir treten ein.
Der sogenannte Stall ist vielmehr ein alter Bretterverschlag mit Fenstern, aber ohne Scheiben. Der Boden ist verdreckt und mit Fässern und Müll bedeckt. Auf einer Liegefläche auf Schulterhöhe liegen einige alte Schaummatratzen.
Immerhin etwas.
Wir legen sicherheitshalber die Bodenplane vom Zelt drüber, wollen lieber nicht wissen, wie lange diese Matratzen schon hier liegen.
Die Schutzhütte liegt einige Meter über der Schneegrenze, es ist bitterkalt und wird schnell dunkel. Alles, was wir an Kleidung haben, wird angezogen.
Dann kochen wir uns schnell etwas zum Abendessen (Lecker Reis mit Tütensuppe – für den Geschmack) und kuscheln uns in die Schlafsäcke.
Als Elisabeth wenig später noch einmal nach draußen geht, ist der Himmel aufgeklart und gibt den Blick auf den Vollmond und die umliegenden, schneebedeckten Gipfel frei. Wir stehen, vollkommen allein, fernab der Zivilisation, mitten in den Bergen, und fallen uns in die Arme. Die Situation ist unwirklich friedlich und so schön, dass ich nicht genug davon bekommen kann. Nur wir. Der Stall. Die Nacht. Der Schnee. Und die Berge.
Gegen 3 Uhr nachts schrecke ich hoch. War da ein Geräusch? Ich lausche. Und tatsächlich. Schritte. Der Schnee knirscht. Das Herz schlägt mir so stark in der Brust, dass ich Angst habe, man könnte es hören. Neben mir schlummert Elisabeth selig. Soll ich sie wecken? Zitternd warte ich ab. Irgendwann verklingen die Schritte und Müdigkeit übermannt mich. Wohl doch nur ein Tier.
Am nächsten Tag packen wir schnell zusammen und wandern wieder hinunter nach Cauterets. Wir sitzen noch am Straßenrand und malen an unserem Trampschild, da hält bereits Simón, Ski- und Kletterlehrer, der in der Nähe paragliden gehen will. Er nimmt uns bis nach Pierrefit mit uns lässt uns an einem Kreisverkehr raus. Von dort aus wollen wir über La Morje und weitere kleine Bergorte nach Andorra trampen. Wieder wissen wir noch nicht, wo wir am Abend sein werden. Es ist beängstigend und aufregend zugleich. Alles ist möglich.
Ein Spanier hält und rät uns, nicht nach La Morje zu fahren. Die Passstraßen nach Andorra seien zugeschneit, da sei kein Durchkommen. Wir sollten zurück nach Lourdes fahren und es über die Schnellstraßen probieren.
Wir bedanken uns und wollen eben die Kreisverkehrausfahrt wechseln, da hält bereits das nächste Auto. »Wollt ihr nach Lourdes?«, ruft Marvín. Wir nicken und steigen ein. Er fährt nach Tarbes und kennt sogar Simón, bei dem wir gerade noch mitgefahren sind.
In Lourdes verlieren wir einiges an Zeit, weil Marvín uns wegen Verständigungsproblemen an der falschen Stelle rauslässt. Nach einer halbstündigen Wanderung stehen wir endlich an der richtigen Ausfahrt und strecken den Daumen raus.
»Bagnéres?« Gerade unterhalten wir uns noch darüber, dass vor allem ältere Frauen nie Tramper mitnehmen, da steckt wie aufs Stichwort Evelina ihren Kopf aus dem Autofenster. Die etwa 50- oder 60-jährige Frau nimmt uns ein Stück mit, erzählt von ihrer Arbeit mit kognitiv eingeschränkten Kindern und spricht dabei mit mir Spanisch und mit Elisabeth Französisch. Dadurch entsteht ein recht lebendiges Gespräch. Sonst spricht eigentlich immer Elisabeth, da die meisten Franzosen nur unzureichend Englisch sprechen können oder wollen.
Ich bin gerade dabei, Evelina von unseren kleinen Abenteuern quer durch Frankreich zu erzählen, da setzt sie uns auch schon im Stadtzentrum von Bagnéres-de-Bigorre, einer kleinen französischen Gemeinde, ab, strahlt uns noch einmal aufrichtig an, wünscht uns Glück und braust wieder davon. Obwohl wir nur wenige Minuten mit ihr gefahren sind, wird sie uns nachhaltig im Gedächtnis bleiben.
Wir aktualisieren unser Trampschild mit der nächsten Etappe – Lannemezan – und stellen uns wieder an die Straße. Es ist süß, zu sehen, wie manche Leute entschuldigend den Kopf schütteln, fast so, als wäre es ihre Schuld, dass sie nicht in unsere Richtung wollen. Es wird das letzte Mal sein, dass wir auf dieser Tour zusammen trampen, aber das wissen wir in diesem Augenblick noch nicht.
Stattdessen betrachten wir unbehaglich den Himmel. Es dämmert bereits wieder und wir sind noch Stunden von Andorra entfernt. Eigentlich hatten wir heute bis an die spanische Grenze kommen wollen, um am nächsten Tag vielleicht durch ein Tal nach Andorra wandern zu können. Daraus wird wohl nichts.
Laurent hält an. Ein weiterer dieser Menschen, die einem Buch entsprungen sein müssen. Einem Kinderbuch, in dem es nur Helden gibt.
»Ich fahre nach Lannemezan«, teilt er uns mit. »Aber vorher mache ich Halt beim Château de Mauvezin, um den Sonnenuntergang zu filmen. Wenn euch das recht ist, steigt ein!«
Ich zögere. Wenn er den Sonnenuntergang filmt, wird es stockdunkel sein, sobald wir Lannemezan erreichen. Dann können wir uns das Weitertrampen abschminken. Sollten wir nicht doch auf ein anderes Auto warten? Aber Elisabeth hat sofort Vertrauen gefasst und überzeugt mich – erneut zum Glück, wie ich später erkenne.
Nachdem wir das Schloss erkundet und Laurent seine Drohnenflüge abgeschlossen hat, nehmen wir Kurs auf Lannemezan.
»Es wird schon dunkel«, merkt Laurent an. Wir haben ihm von unseren Plänen und Schlafmöglichkeiten erzählt. »Wenn ihr wollt, könnt ihr euer Zelt in unserem Garten aufstellen.«
Die Aussicht auf einen sicheren Schlafplatz lässt uns sofort zustimmen. Eine halbe Stunde später finden wir uns in einer lustigen Erwachsenen-WG wieder. Wir stellen das Zelt auf und schlafen am Ende doch auf dem Sofa, weil die Bewohner uns die Kälte draußen nicht zumuten wollen.
Laurent zeigt uns einige seiner Aufnahmen. Er ist Postbeamter, leidenschaftlicher Hobbyfotograf, und ständig auf der Suche nach malerischen Landschaften und dem richtigen Licht.
Laurent arbeitet ohne Filter, ohne Nachkolorierung. »Das richtige Licht macht viel aus«, pflegt er zu sagen. Wer seine Arbeit verfolgen will, ist herzlich dazu eingeladen: https://www.youtube.com/@laurentlaine3015
Im Verlauf des Abends komme ich mit Ugo ins Gespräch, der in Lannemezan an einer Mittelschule unterrichtet. Als ich ihm von meinen Reiseplänen erzähle, weiten sich seine Augen.
»Über den Atlantik mit dem Segelboot?« Ich erwarte ein »Das ist verrückt« oder »Du bist aber mutig«, die üblichen Reaktionen. Stattdessen fährt er fort: »Ich habe einen Freund, der ein Segelboot hat und der will auch über den Atlantik!«
Ich traue meinen Ohren kaum. »Dieses Jahr?«, hakte ich nach.
Ugo nickt.
Wenige Minuten später habe ich die Kontaktdaten von einem waschechten Segler und noch etwas später auch schon eine Antwort. Er habe leider keinen Platz für eine weitere Person auf dem Boot, schreibt Valentin, aber er unterstütze mich gerne bei meiner Suche. Außerdem rät er mir von Gibraltar ab – ich solle es lieber in Lissabon und Cascais probieren, er selbst sei gerade in Cascais und könne mich zur Not auch auf die Kanaren mitnehmen, wo die Chancen noch besser stehen. Wir verabreden uns lose in Cascais. Nach Lissabon muss ich ohnehin, denn inzwischen sind meine Wanderstöcke in Taizé angekommen. Ich hatte Francisco, der den Dezember über seine Familie in Portugal besucht, gebeten, sie für mich mitzunehmen.
Was hätte ich nicht alles verpasst, wäre ich nicht eingestiegen!
Und es kommt noch besser. Am nächsten Morgen verkündet uns Laurent, uns bis nach Andorra fahren zu wollen. Wir wollen schon ablehnen – immerhin sind das mindestens 4h Fahrt! - aber Laurent besteht darauf, freut sich darauf, ein paar neue Filmspots zu finden und möchte unterwegs noch bei einem weiteren Château Halt machen. Wir stimmen zu und so sitzen wir am Nachmittag zu dritt im Auto, singen lautstark zur Musik, filmen eine alte Burgruine, die einsam irgendwo in den Pyrenäen steht und überqueren den schneebedeckten Pass nach Andorra.
Im Grenzort Pas de la Casa gibt es fast nur Zigaretten- und Spirituosenläden, erzählt uns Laurent. Andorra gilt als Steuerparadies für Konsumenten von Suchtmitteln, manche kommen nur bis hierher, um sich einzudecken und kehren dann wieder um.
Wir folgen der Hauptstraße, die einmal von Norden nach Süden durch Andorra führt. Auf dem Weg durchqueren wir eine Handvoll kleinerer Orte, deren Häuser aus Stein und dunklem Holz gefertigt sind.
»Du«, ich beuge mich zu Elisabeth vor. »Fühlst du dich auch so… eingeklemmt?« Mir fällt kein besseres Wort ein, um mein Unwohlsein zu beschreiben.
Elisabeth nickt. »Irgendwie ist das alles bedrückend«, stimmt sie mir zu.
Der Knoten im Bauch löst sich ein wenig, als wir Andorra La Vella erreichen, die Hauptstadt des Fürstentums. Aber bis zu unserer Abreise kann ich mich einer gewissen Beklommenheit nicht erwehren. Vor allem die Städte Andorras wirken so, als hätte man sie einem Industrieviertel entrissen und einfach in die Berge versetzt. Verspielte Balkone und heimelige Holzdächer wie in den Alpen sucht man hier vergebens. Stattdessen wird eine seltsame Art von Reichtum und Prunk zur Schau getragen, der irgendwie nicht hierher passen will.
Andorra ist ein kleines Fürstentum in den östlichen Pyrenäen zwischen Spanien und Frankreich. Mit einer Einwohnerzahl von etwa 77.000 Menschen ist es eines der kleinsten Länder Europas. Die Amtssprachen sind Katalanisch, Spanisch und Französisch. Politisch gesehen ist das Land eine parlamentarische Ko-Fürstentum, wobei der Präsident Frankreichs und der Bischof von Urgell in Spanien als Co-Fürsten fungieren.
Die Wirtschaft von Andorra basiert stark auf Tourismus und steuerlichen Vorteilen – vor allem in den letzten Jahren ist es bekannt für seine Skigebiete und Berglandschaften geworden.
Wir kommen bei Ada unter, einer jungen Frau, die ich über Couchsurfing gefunden habe. Sie ist in Andorra aufgewachsen, aber in den letzten Jahren viel gereist und hat vor, dies wieder zu tun, sobald sie mit ihrem Sprachtherapiejob im Krankenhaus und dem Katalanischunterricht im Internet genügend Geld verdient hat.
Wir wollen wieder in die Berge, eine Nacht in der Refugi dels Estanys verbringen, ein bisschen Natur mitnehmen. Doch als wir am Dienstagmorgen aufbrechen wollen, geht es Elisabeth auf einmal sehr schlecht. Sie entscheidet, im Tal zu bleiben, während ich kurzfristig umdisponiere und mir eine schöne Tagesroute zur Refugi de Prat Primer heraussuche.
Die Einsamkeit des Winterwanderns ist unglaublich beruhigend – vier Stunden lang begegne ich keiner Menschenseele, erst auf dem Abstieg treffe ich irgendwo im Wald auf einen Spaziergänger mit Hund. Die Hütte ihrerseits ist traumhaft gelegen und entschädigt alle Strapazen, die ich – immerhin noch mit dem Rucksack für die Hüttenübernachtung bepackt! - auf mich genommen habe.
Für Wanderer das beste Gefühl.
Am nächsten Tag geht es Elisabeth zum Glück besser und wir unternehmen eine schöne Wanderung zum Llac d’Engolasters, einem Bergsee, der um diese Jahreszeit bereits mit einer dünnen Eisschicht überzogen ist. Auf dem Hinweg überqueren wir einen Kinderwandererlebnisweg, den tamarro. Ada erzählt uns später, dass Touristen gerne damit veralbert werden, der tamarro sei eine ganz besondere Tierart, die nur in Andorra heimisch ist. Jedes Geräusch werde dann fälschlicherweise dem tamarro zugeordnet.
Am Abend begleiten wir Ada zu ihrem Judotraining und lernen eine Reihe lieber und lustiger Andorraner kennen. Dani, der Sensei, bleibt manchmal bei mir stehen und fragt mich nach der ein oder anderen Übersetzung. Dann läuft er weiter und statt »Venga! Venga!« hört man jetzt »Weiter! Weiter!«
Nach dem Training werden wir von der Gruppe noch auf ein Bier und Tapas in eine Bar eingeladen. Noch nie war ich so erschöpft, aber der Abend macht so viel Spaß - wir lernen einige dreckige Trinksprüche auf Katalanisch und vermitteln die deutschen Regeln des »Anstoßens« -, dass wir uns erst kurz nach Mitternacht auf den Heimweg machen. Juan und Ada zeigen uns noch die Regierungsgebäude und erzählen von einigen katalanischen Bräuchen, dann sitzen wir auch schon in unserem Zimmer und packen bis spät in die Nacht unser Zeug zusammen.
Eine amüsante katalanische Weihnachtstradition ist der Cagatió, ein Baumstamm mit einem lächelnden Gesicht und einem Barett. Tage vor Weihnachten kommt er in die Haushalte, und Kinder müssen ihn bis zum Weihnachtstag mit verschiedenen Leckereien füttern. Dann wird der Stamm zugedeckt, und die Kinder schlagen mit Stecken darauf, singen Volkslieder und warten darauf, dass der Cagatió viele Geschenke "kackt" - meist Bonbons, Süßigkeiten und Schokoriegel.
Und es wird noch außergewöhnlicher. Die Katalanen scheinen eine eigenartige Tradition mit dem »Scheißen« zu verbinden.
Ein Caganer (katalanisch für "Scheißer") ist eine unkonventionelle Krippenfigur aus dem katalanischen Kulturkreis. Sie zeigt eine Person mit heruntergelassenen Hosen, die oft in einer Ecke oder hinter einem Busch ihre Notdurft verrichtet. Der Ursprung dieser Tradition wird im 17. Jahrhundert vermutet, und ursprünglich repräsentierte der Caganer eine Figur in typischer Kleidung katalanischer Bauern mit Schärpe und roter Mütze (Barretina). Heutzutage werden die Figuren oft auch als bekannte Persönlichkeiten wie Politiker oder Sportler dargestellt.
Am Donnerstag, dem 30.11., verlassen wir Andorra und die Pyrenäen. Ada hat zufälligerweise genau heute einen Termin in Barcelona und nimmt uns mit. Wir haben einfach immer ein unverschämtes Glück!
Im Zentrum von Barcelona werden wir ausgesetzt – von 8 Grad in 21 Grad – und stehen erst einmal etwas ratlos in der Gegend herum. Da spricht uns ein Touristenpärchen an, erklärt uns den Weg zur Touri-Information und schenkt uns seine Fahrkarten.
Auf der Plaza Catalunya findet gerade die Aufzeichnung einer katalanischen Gesangstalentshow statt, der wir eine Weile zuhören. Dann laufen wir die berühmte La Rambla hinunter und stellen unsere Sachen bei Josh, meinem Couchsurfer-Host für Barcelona, ab. Der Tag endet schließlich nach einer ausgiebigen Sightseeingtour durch die berühmtesten Sehenswürdigkeiten Barcelonas in einer Tapasbar, die uns Josh empfohlen hatte. Wir zelebrieren diesen letzten gemeinsamen Abend noch einmal ausgiebig und testen uns durch die Speisekarte, dann holen wir Elisabeths Sachen und machen uns auf den Weg zum Busbahnhof.
Der Abschied fällt schwer, so viel haben wir in der vergangenen Wochen zusammen erlebt, so viel Gutes erfahren, so viele Bekanntschaften geschlossen. Wir wissen noch nicht, wann und wo wir uns wiedersehen werden, aber der Kontakt soll bestehen bleiben. Ich winke noch einmal fröhlich und traurig zugleich, dann verschwindet der Reisebus im Verkehrsgedränge der Großstadt.
Und plötzlich… plötzlich bin ich wieder auf mich allein gestellt.
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