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rebecca928

#15 | Ein Traum wird wahr – Ankunft in Venezuela


Chaguaramas, Cedros, Tucupita, Pacaraima

Ende April bis Anfang Mai 2024


»Kannst du es glauben?«, fragt Milena und betrachtet den näherkommenden Steg am Flussufer. Ich schüttle den Kopf, fixiere die Umgebung. Diesen Moment möchte ich mit allen Sinnen genießen.

Eine kleine Menschengruppe hat sich an dem winzigen Hafen der Dschungelstadt versammelt. Sie alle haben jemanden, den sie willkommen heißen möchten. Auch für uns ist jemand gekommen. Ich stoße Milena an. »Da ist Jim!« Aufgeregt winken wir, während zwei Männer die Seile auffangen und unser Boot an den langen Holzbohlen befestigen. Sofort geht das Gewusel los. Und ehe ich mich versehe, stehe ich mit beiden Beinen auf der Erde. In Südamerika. Auf der anderen Seite des Atlantiks.

Ich habe es geschafft.


Schemen der venezolanischen Küste

Drei Tage zuvor entdecke ich im Morgengrauen zum ersten Mal die Küste Venezuelas. Begeistert und sprachlos stehe ich am riesigen Steuerrad der Ocean Science mit Kurs auf Trinidad und beobachte, wie sich der schmale Küstenstreifen vage aus dem Dunst herausschält. Salvador, mein griechisch-argentinischer Kapitän, braut sich unten in der Pantry gerade einen Morgenkaffee zusammen. Die ganze Nacht sind wir „per Hand“ hindurchgesegelt. Weil der Autopilot nicht funktioniert. Nun fordert die Müdigkeit langsam ihren Tribut.

»Hast du Angst vor den Piraten?«, werde ich gefragt. Ich schüttle den Kopf. Zwar habe ich von den venezolanischen Gesetzeslosen gehört, die vor der Küste des südamerikanischen Landes ihr Unwesen trieben sollen, aber immerhin ist das hier doch eine stark befahrene Route, oder etwa nicht? Außerdem kann ich vor uns, noch viel näher als Venezuela, die Küste Trinidads ausmachen. Fast nur noch ein Katzensprung. Quasi.

Blick nach Trinidad

Salvador grinst, ohne dass das Lächeln seine Augen erreicht. »Das kann überall passieren«, erzählt er mir. »Die kommen mit kleinen, schnellen Motorbooten. Selbst wenn du sie früh entdeckst, hast du mit deinem langsamen Segelboot keine Chance. Und die Küstenwache Trinidads kannst du ebenfalls vergessen. Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht dich trifft.«

Nun gut, jetzt habe ich vielleicht doch ein klein wenig Angst.

Entgegen dieser Gruselgeschichten erreichen wir am späten Nachmittag die Bucht vor Chaguaramas, dem nordwestlichen Zipfel Trinidads. Hier erinnert allerdings nichts an das Postkartenflair der Karibik. Stattdessen reihen sich industrielle Hafenbauten an beiden Seiten der Bucht aneinander. Etliche Segelboote liegen davor und an den Stegen vor Anker. Noch mehr stauen sich bei den Drockendocks auf. Chaguaramas gilt unter Seglern aufgrund der geringen Preise als Eldorado für Bootsreparaturen. Viele kommen hier zu Beginn der Hurricanesaison her, um ihre schwimmenden Häuser zu renovieren und Heimatbesuche anzutreten.



Trinidad und Tobago, ein Inselstaat in der südlichen Karibik, liegt nordöstlich von Venezuela. Die vielfältige Kultur, entwickelt hauptsächlich aus den mehrheitlich indischen Einwohnern, spiegelt Einflüsse afrikanischer, indischer, europäischer und indigener Traditionen wider, was sich in Musik, Tanz und Küche zeigt. Die Landschaft reicht von den Regenwäldern und Wasserfällen Trinidads bis zu den weißen Sandstränden und Korallenriffen Tobagos. Die Bevölkerung von etwa 1,4 Millionen Menschen ist bekannt für ihre herzliche Gastfreundschaft und lebt hauptsächlich in städtischen Gebieten wie der Hauptstadt Port of Spain, die jedoch ein hohes Maß an Kriminalität zu verzeichnen hat.
In der Hängematte "abhängen"

Weil die Einwanderungsbehörde bereits geschlossen hat, kehren wir unverrichteter Dinge zum Boot zurück und hängen unsere Hängematten an Deck auf. Das war schon lange ein Traum von mir gewesen, doch bereits nach wenigen Minuten wird mir das Schwingen, das von den anrollenden Wellen verursacht wird, zu viel.

Bereits am nächsten Tag erfahre ich die Warnungen, die mit einem Besuch in Trinidad mitschwingen, am eigenen Leibe. »Fahr bloß nicht mit einem Taxi! Nimm eines der Sammeltaxis«, rät mir der Parkplatzwächter des Marinahotels, als ich mich auf den Weg nach Diego Martin machen will. Hier habe ich einen Kontakt, bei dem ich eine Nacht verbringen kann - bevor es nach Cedros geht, wo in zwei Tagen die Fähre nach Venezuela ablegen soll.

»Banditen benutzen Taxis, um Leute zu entführen und auszurauben. Das ist auf keinen Fall sicher… Sherry!« Der Parkplatzwächter winkt ein paar Frauen heran, die im Hotel arbeiten und auf dem Weg nach Hause sind. Zwei Sekunden später habe ich eine Mitfahrgelegenheit. Sherry sorgt dafür, dass ich sicher bis nach Diamond Vale, einem Stadtteil von Diego Martin, komme. Das tiefergelegte Auto schrammt alle zwanzig Meter über die Bodenwellen und löst bei mir das gleiche unangenehme Gefühl einer über eine Tafel kratzenden Gabel aus.


typische Doubles

Schließlich stehe ich vor der Tür von Shanice, einer jungen Frau, die mich überschwänglich in ihrem Zuhause begrüßt, als wäre ich eine lange vermisste Freundin. Während sie zu einem kurzen Geburtstagsessen verschwindet, werde ich von ihren Freunden Jay, Anna und Whitney zum Barhopping in einem nahen Viertel mitgenommen, in dem es vor jungen ausgehfreudigen Leuten nur so wimmelt. Hier probiere ich an einem Straßenstand zum ersten Mal das für Trinidad typische Gericht Doubles, ein veganes Frühstücksgericht „to go“, welches aus zwei kleinen, frittierten Fladenbroten besteht, auf die ein Kichererbsencurry oder mehrere Chutneys gegeben wird.


How to eat Doubles:
Serviert werden Doubles auf einem dünnen Teller oder gleich einem Stück Papier. Der erste Fladen fungiert als „Greifzange“, mit welcher – im besten Fall – die Hälfte des Kichererbsencurrys aufgenommen und in den Mund geschoben wird. Der Rest wird mit dem zweiten Fladen verspeist. Zwei Fladen – deshalb „Doubles“.
ein toller Abend

Später am Abend stößt auch Shanice wieder dazu und wir enden nach mehreren Barbesuchen und tollen Begegnungen wieder bei ihr Zuhause bei tiefgründigen Gesprächen, bevor es schließlich zu Bett geht.


Am nächsten Morgen treffe ich Alana vom Fährunternehmen „Ángel del Orinoco“ vor der venezolanischen Botschaft in Port of Spain, der Hauptstadt Trinidads. Sie hat noch einige Termine zu erledigen, sodass ich den Großteil des Tages im Auto verbringe und mit ihrem Mann und ihrem Fahrer spanische Netflixfilme auf dem Handy schaue, während wir uns mit lokalen Spezialitäten eindecken. Ein paar der morgigen Teilnehmer der Fährfahrt müssen noch bezahlen – weil man so etwas in Trinidad nicht einfach auf der Straße machen kann, steigen sie zu uns ins Auto. Dann wird das Geld in bar ausgehändigt, ein gemeinsames Beweisfoto geschossen und anschließend wieder ausgestiegen. Ein wenig kriminell fühlt sich diese Art der Geschäftsabwicklung schon an, finde ich und beobachte das Treiben interessiert.

Nach etlichen Stopps erreichen wir gegen Abend Cedros, den Wohnort von Alana und ihrem Mann. Von hier aus wird morgen die Fähre nach Tucupita in Venezuela ablegen.

Als ich aus dem Auto steige, verfehlt meine Tür um eine Haaresbreite ein daneben stehendes Auto. Sofort kommt ein stinkwütender Mann aus dem Nachbarhaus und fängt an, laut herumzuschreien. Alanas Mann nimmt die Verteidigung auf. Später erzählen mir die beiden von dem Rassismus, mit dem sie tagtäglich zu kämpfen haben. »Der ist nur so wütend geworden, weil er uns für Venezolaner hält«, erzählt Alana mir. »Seit den Flüchtlingsströmen sind die hier nicht mehr gerne gesehen. Dabei sind früher Trinidader zu Tausenden nach Venezuela ausgewandert, der besseren Lebensbedingungen wegen – das muss man sich mal vorstellen!« Alana stammt aus Guyana, dem Nachbarland Venezuelas. Lange hat sie auch in Venezuela gelebt, ihre Kinder studieren dort noch. »Ich sehe mich allerdings als Guyanerin«, erzählt sie mir.

Warten auf die Abfahrt

Der nächste Morgen vergeht schnell mit der Organisation der Fährfahrt. Zweimal im Monat geht es hinüber, über das Golf von Paria, wie dieser Teil des Karibischen Meeres zwischen Trinidad und Venezuela genannt wird. Die meisten Passagiere sind Venezolaner, die auf Heimatbesuch sind, nach missglückten Auswanderungsversuchen zurückkehren oder abgeschoben werden. Alana rennt den ganzen Tag über zwischen dem Haus, dem Steg und den Behördengebäuden von Cedros hin und her. Unterdessen lerne ich die 30-jährige, französische Backpackerin Milena kennen, die ebenfalls über Venezuela nach Manaus weiterreisen möchte. Da ihre Mutter Mexikanerin ist, spricht sie fließend Spanisch. Dieser Umstand wird sich später noch als äußerst hilfreich herausstellen. Als einzige Nicht-Venezolaner auf dieser Fahrt finden wir schnell zusammen und beschließen, auch den Rest des Weges gemeinsam zurückzulegen.

Ablegen vom Steg

Mit etwa zwei Stunden Verspätung verlassen wir schließlich am 30.4. gegen 14 Uhr den kleinen Hafen von Cedros, Milena und ich sitzen in der vordersten Reihe und können die vorbeiziehende Landschaft bestens beobachten, als wir nach etwa einer halben Stunde Fahrt auf den Cano Manamo einbiegen, einen Fluss, der sich bis nach Tucupita zieht. Mit einem Mal sind wir wieder vom Festland, von einem Kontinent umgeben. Man kann sich gar nicht sattsehen.


Venezuela, ein Land im Norden Südamerikas, grenzt an Kolumbien, Brasilien und Guyana. Es besitzt vielfältige Landschaften, darunter die Anden, das Orinoco-Delta und tropische Regenwälder. Die Hauptstadt Caracas liegt in einer Bergregion. Venezuela ist reich an Erdölvorkommen, was es einst zu einem der wohlhabendsten Länder Lateinamerikas machte.
Jedoch leidet das Land seit Jahren unter einer schweren Wirtschaftskrise, die durch Korruption, Misswirtschaft und Sanktionen verschärft wurde. Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und Mangel an grundlegenden Gütern haben Millionen Venezolaner zur Flucht gezwungen. Politisch ist das Land seit Jahren tief gespalten, was vor allem auf die Regierungen unter Hugo Chávez und später Nicolás Maduro zurückzuführen ist.

Der Regenwald zieht an uns vorbei. Von Zeit zu Zeit tauchen kleine Hütten am Uferrand auf, Menschen in Einbäumen paddeln an ihnen vorbei und werden von unserer Fähre schnell hinter sich gelassen. »Was ist das?«, fragte ich, als wenig später Rauchschwaden aus den Baumkronen aufsteigen. Einer der Männer klärt uns auf. »Das sind Feuerrodungen«, erklärt er uns. »Artet manchmal ein wenig aus. Später wird der gesamte Fluss in Rauch gehüllt sein.« Seine Vermutung bestätigt sich, zwei Minuten später ist selbst das Ufer nicht mehr erkennbar.



Am späten Nachmittag erreichen wir schließlich die Anlegestelle in Tucupita. Von hier aus führen Straßen ins Landesinnere, alle vorherigen Siedlungen, die wir unterwegs passiert haben, sind nur per Boot zu erreichen. Jim, ein Hitchhiker aus Deutschland, wartet bereits am Steg auf uns. Milena kennt er bereits aus Gran Canaria, mich nur vom Schreiben, nachdem ich ihn um Tipps für die Einreise nach Venezuela gefragt hatte.

Mit Jim und Milena in Tucupita

Was folgt, ist ein ewiger Eindeklarierungsprozess. Zum Glück hat Bimarlin, Jims Host in Tucupita und Angestellte des Fährunternehmens, ein Auge auf uns. Danach geht es in einem riesigen, schwarzen Truck zum Hotel, das durch hohe Mauern und eine Stahltür geschützt wird. Als wir sehen, dass diese tagsüber ständig geöffnet ist, fühlen wir direkt ein wenig sicherer. »Draußen unterwegs zu sein ist hier kein Problem«, bestätigt uns auch Jim, der sich nach zwei Wochen als einziger Ausländer in Tucupita über ein paar alte Freunde sichtlich zu freuen scheint. »Tagsüber ist es mir draußen zu heiß und wenn ich abends durch die Straßen wandere, habe ich mich noch nie unsicher gefühlt.«

Der Markt

Diesen Eindruck erhalten wir ebenfalls, auch wenn wir uns zunächst aufgrund der vielen Warnungen vor Venezuela nur zögerlich nach draußen wagen. Jims Wettereinschätzungen stellen sich nur zu schnell als wahr heraus, sodass wir uns nicht allzu lange auf dem Markt herumtreiben können. Auch die geringe bis gar nicht vorhandene Ausländerdichte bestätigt sich sofort: Wo wir auch hingehen, schaut man uns nach, einige vorbeirennenden Kinder zeigen mit den Fingern auf uns und rufen immer wieder »¡gringas! ¡gringas!«


Das Wort "Gringo" (für Männer) oder "Gringa" (für Frauen) stammt aus dem Spanischen und wird in Lateinamerika verwendet, um in der Regel Menschen aus den USA oder anderen englischsprachigen Ländern zu bezeichnen. Der Begriff hat seine Wurzeln möglicherweise in der Zeit der US-Militärpräsenz in Mexiko und kann je nach Kontext neutral, scherzhaft oder abwertend verwendet werden. In manchen Regionen wird er auch einfach für Ausländer im Allgemeinen verwendet.

Am verlassenen Busbahnhof Tucupitas besorgen wir uns an einem der Stände Bustickets direkt nach Manaus. Sind Hotels in Venezuela vergleichsweise günstig, so sind es Lebensmittel und öffentliche Verkehrsmittel aufgrund von Embargos gegen das Land nicht. 128 Dollar wird uns die Fahrt kosten.

Am Abend treffen wir uns mit Jim zu einem Stadtrundgang. Tucupita ist eine recht junge Stadt, die hiesige Kathedrale entgegen unserer Vermutungen erst 40 Jahre alt. Das erzählt uns auch Eduardo Parra, ein Pfarrer aus der hiesigen Kirche San José am Flussufer. »Die Stadt wurde bereits um 1885 gegründet«, berichtet er. »Sie diente als Handelszentrum für Mais, Bananen, Kakao, Zuckerrohr und Tabak, die im Hinterland angebaut wurden. Aber erst Mitte der 1960er Jahre erlangte sie durch den Bau eines Staudamms über den Fluss Mánamo ihr heutiges Erscheinungsbild. Früher lag das alles hier inmitten des Dschungels ohne Straßenanbindung.«



Am Fluss treffen wir auf eine Gruppe betrunkener Männer, die gerade einen Einbaum ins Wasser schieben und lauthals singend davon paddeln. »Das sind Warao«, sagt Jim. Ich vernehme einen traurigen Unterton in seiner Stimme, da redet er auch schon weiter: »Sie wurden in der Vergangenheit nie besiegt oder kolonisiert. Aber wer von ihnen in den Städten landet, verliert zwischen Müll und Slums schnell seine Identität. Die meisten Obdachlosen auf den Straßen sind Indigene.«


Die Warao sind ein indiges Volk, das sich vor etwa 9.000 Jahren im Flussdelta des Orinoco angesiedelt hat. Mit rund 30.000 Angehörigen zählen sie zur zweitgrößten indianischen Ethnie Venezuelas. Dabei haben sich die Bevölkerungszahlen in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt wegen der verbesserten medizinischen Versorgung fast verdreifacht. Inzwischen betreiben die Warao eine langsame Annäherung an die westliche Kultur, halten jedoch an ihren Brauchtümern fest. Der kulturelle Erhalt dieser Gruppe besitzt damit in den Augen von Forschern gute Überlebenschancen.
Stromausfälle sind kein Problem

Nach einem Stromausfall und einem Besuch im großen Zentralpark Tucupitas mit seinen Papageien und Affen verabschieden Milena und ich uns am Donnerstag von Jim und warten auf unsere erste Busverbindung nach Puerto Ordaz. Nur viermal umsteigen müssen wir auf der etwa 1.800km langen und 44h andauernden Fahrt ins brasilianische Manaus. Das habe ich allein bei so mancher Zugfahrt in Deutschland schon einmal getoppt.

Der Busbahnhof brummt nur so vor Geschäftigkeit. Etliche Venezolaner – Taschen tragende Männer, gestresste Mütter, quengelnde Kinder – schwirren um uns herum. Es ist heiß, wie jeden Tag in Tucupita. »¡Helados, bebidas frías, dulces!« Bei einem Straßenverkäufer kaufen wir uns ein Wassereis und beobachten zufrieden schleckend das bunte Treiben. Wenige Minuten später sind unsere Hände mit klebriger Flüssigkeit überzogen. »Wenn es jetzt losgehen würde«, witzel ich noch und wir fangen an zu kichern. Just in diesem Moment kommt ein Venezolaner aufgeregt winkend auf uns zu. Energisch gibt er uns zu verstehen, dass das Auto, auf das wir bereits seit einer Stunde warten, auf keinen Fall fünf Minuten länger warten kann, bis wir uns unsere Hände gewaschen haben. ¡Maldito!

Gute Laune vor Puerto Ordaz

Drei Stunden später stehen wir in Puerto Ordaz und schauen entsetzt auf den alten Autobus, der uns zur brasilianischen Grenze bringen soll. Klein, überfüllt, ohne Klimaanlage oder Toiletten. Und zusammen sitzen können wir erst recht nicht. Irgendwo werden wir noch dazwischen auf die viel zu kleinen Sitze gequetscht. 14h bis Santa Elena. Das wird ein Spaß.



Im Bus gibt es kaum etwas zu sehen

Etliche Stunden rumpeln wir durch die staubigen Straßen. Irgendwann wird es dunkel. Im Busfernseher läuft auf voller Lautstärke ein Blockbuster, bei dem alle zwei Minuten einer draufgeht. Die mitfahrenden Kinder scheinen daran gewöhnt zu sein. Von Zeit zu Zeit halten wir an Militärcheckpoints an. Soldaten kommen mit Taschenlampen in den Bus und gehen durch die Sitzreihen. Jedes mal haben wir Angst, dass unsere Rucksäcke im Kofferraum gestohlen werden könnten. Milena hat einige Referenzgeschichten dazu gehört. Gegen 20 Uhr machen wir eine Pause. Die Menschen strömen aus dem Bus und positionieren sich um die schäbigen Klohäuschen. Danach kaufen sie sich an den Straßenständen etwas zum Abendessen. Weitere Busse stehen auf der Straße. Fast fühlt es sich an wie ein kleines Straßenfest. Milena und ich packen unsere mitgebrachten Arepas aus und stillen unseren Hunger. Dann geht es weiter.


Mitternacht. Ich wache auf. Irgendwie muss ich eingenickt sein. Es war kein erholsamer Schlaf. Ich reibe mir meinen schmerzenden Nacken und ruckel mich in meinem Sitz zurecht. Der Mann neben mir brummt kurz im Schlaf, als ich ihn dabei anrempele.

Wo sind wir?

Wir haben angehalten. Draußen flackern die Lichter von Taschenlampen umher. Im grellen Schein erkenne ich ein paar Strohhütten am Rande der Straße. Dahinter erstreckt sich endloser Dschungel.

Irgendwo zwischen Puerto Ordaz und Santa Elena, beantworte ich mir die Frage selbst und bin damit kein Stück weitergekommen.

Die Bustüre wird geöffnet und befehlsgewohnte Stimmen werden laut. Ihr Spanisch ist zu schnell als dass ich sie verstehen könnte. Nun ist auch der Letzte Fahrgast aufgewacht. Irgendetwas ist anders als bei den vorausgegangenen Militärkontrollen. Die Stimmung ist angespannt.

Ein Soldat läuft durch die Sitzreihen nach hinten und durchleuchtet jeden mit seiner Taschenlampe. Als der Schein auf mir landet, hält er inne und blafft mich auf Spanisch an. In meiner Aufregung verstehe ich kein Wort und muss zweimal nachfragen, bevor Milena mir zu Hilfe kommt. »Wir sollen mit rauskommen.« Entsetzt starre ich sie an. Rauskommen? Mitten im Nirgendwo?

Mit einem mulmigen Gefühl folgen wir den Soldaten nach draußen, wo unsere Backpacks ausgeladen werden. Auch ein dritter Passagier mit ausländischem Pass folgt uns. Unter einer der Strohhütten am Rande der Straße stehen große Tische. Dort müssen wir einmal den gesamten Inhalt unserer Rucksäcke ausleeren. Einige der Soldaten kramen in den Taschen und leeren sogar unsere Waschbeutel aus. Milena erzählt währenddessen betont fröhlich von unserer Reise, langsam gewöhne ich mich an das rasche Spanisch und ich kann die Konversation verfolgen. Die Soldaten stellen einige Frage und halten sich besonders lange an meinem Campingkocher auf. Mehrmals fragen sie, ob wir Amerikaner sind. Unsere Pässe werden herumgereicht. »¡Una francesa y una alemána!«, ruft einer der Soldaten seinen Kollegen zu. Jetzt werden sie freundlicher, hören sich gespannt unsere Geschichte an. Am Ende bekommen wir sogar noch einen Kaffee angeboten, dann dürfen wir wieder in unseren Bus einsteigen, der zum Glück noch immer dort steht. Die Soldaten winken freundlich, als wir weiterfahren. Endlich können wir erleichtert ausatmen. Nicht selten suchen die Militärs bei Ausländern nach Dingen, die ihnen halblegal erscheinen und erpressen dann Bestechungsgelder. Wir sind nochmal davongekommen.


Fertig mit der Welt

Bei Morgengrauen erreichen wir die venezolanische Grenzstadt Santa Elena de Uairén. Alle Fahrgäste müssen den Bus verlassen. Wir tun es verwundert, denn bis zu diesem Punkt der Fahrt hatten wir geglaubt, bis nach Manaus durchfahren zu können, wie man es uns im Büro des Busunternehmens versprochen hatte. Nun stehen wir also am Busbahnhof und schauen uns etwas verloren um. Ein paar Taxifahrer versuchen uns zu überreden, ihren Wagen bis zur Grenze zu nehmen, aber die genannten Preise lassen uns misstrauisch werden. Deutlich zu hoch, außerdem haben wir ein Ticket bis Manaus bereits bezahlt, das sollte ja zu regeln sein.

Ein Vergnügungspark in Santa Elena

Nach einigem Suchen finden wir in dem Bahnhof ein kleines Büro unserer Organisation, die nach Vorlage unseres Tickets schließlich einen Fahrer zur Grenze organisieren, hinter der der nächste Bus fahren soll.

Seltsame Delikatesse

Nach einigen Stunden steigen wir außerhalb des Busbahnhofs – da es sich die Organisation nicht mit den Taxifahrern verscherzen will – zu einem humorvollen Venezolaner in den Wagen, der über die folgenden dreißig Minuten den Mund nicht mehr schließen wird und unterwegs noch einmal kurz anhält, um uns von einem Laden seine Lieblingsköstlichkeit mitzubringen – eine Art Lebkuchen mit einer dicken Scheibe gesalzenen Ziegenkäses oben drauf. Eine seltsame Kombination.

Schließlich ist es da: Das Bem vindo ao Brasil-Schild, das uns in Brasilien willkommen heißt. Wir fahren hinüber in die brasilianische Grenzstadt Pacaraima hinein. Verwirrt schauen Milena und ich uns an. »Müssen wir nicht noch zur Eindeklarierung?«, fragen wir vorsichtig. Der Fahrer lacht und winkt ab. »Wir bringen jetzt erst einmal eure Sachen zum Busbahnhof und besorgen euer nächstes Ticket und dann fahren wir nochmal zurück. Ganz entspannt.«

So ist es dann auch tatsächlich. Zu Fuß spazieren wir zum Grenzamt, zeigen unsere Ausweise, bekommen unsere Stempel und sind offiziell in Brasilien eingereist. Kein »Haben Sie eine Hotelbuchung?«, kein »Wo wollen Sie als nächstes hin?« und auch kein »Legen Sie bitte ein Ticket zur Ausreise vor«. Wir sind verblüfft. Das war der einfachste Grenzübergang, den wir seit Verlassen der EU erlebt haben. Ein guter Start!

Die Distanzen in Brasilien sind gewaltig

Von Pacaraima aus fahren wir weiter gen Süden. In Boa Vista steigen wir noch einmal um und sind begeistert – das sind die Busse, von denen alle Südamerika-Reisende geschwärmt haben! Wlan, Klimaanlage, verstellbare Sitze… nach der alten Klapperkiste sind wir jetzt im siebten Himmel.

Über Nacht durchqueren wir den Regenwald, der weiterhin dicht zu beiden Seiten der Straße aufragt. Ich schlafe, als wir den Äquator überqueren und wache erst auf, als wir uns bereits auf der Südhalbkugel befinden. Mein Herz schlägt vor Aufregung, noch nie bin ich so weit im Süden gewesen!

Schließlich, 44h nachdem wir in Tucupita aufgebrochen sind, schält sich langsam – mit der Trägheit eines alten Weibes – die Millionenstadt Manaus aus dem trüben Morgenlicht. Bäume und dichte Vegetation weichen zunehmend wachsenden Häusern, die sich zu Tausenden um den Rio Negro drängen. Begeistert drücken wir unsere Nasen an den Fensterscheiben platt und können es kaum glauben, dieses Bienennest inmitten des unendlichen Grünes gefunden zu haben.






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