Basse-Terre, Guadeloupe
März bis April 2024
Man stelle sich einen Ort vor, an dem sich Katz’ und Salamander gute Nacht sagen. Versteckt, etwas abseits der Straße, im Hintergarten der Dschungel. Bambus-Tipis und ausrangierte Bullies säumen die Wege – ganz unten am Hang, noch hinter dem Haupthaus, thront eine runde Lehmhütte. Im nächsten Moment muss daraus ein Hobbit entspringen, vermutet man. Neben einer überdachten Küche eröffnet sich ein Stelzenhaus mit Sofas, Billardtisch, Dartscheibe und Lichterketten, deren warmes Licht abends den Sternenhimmel imitieren. In der Draußendusche wohnt ein Salamander, dessen funkelnde schwarze Perlenaugen den Duschenden neugierig beobachten. Irgendwo klimpert jemand eine einfache Melodie auf der Gitarre, aus einem der Tipis dringt leises Schnarchen.
Utopie?
Nein. Das ist Tikazalou.
Nicht einmal ein Jahr ist das Hostel alt, erbaut und stets erweitert von Lou, einem Einheimischen, der die letzten zwanzig Jahre seines Lebens viel gereist und herumgekommen ist. Unter anderem auch durch Costa Rica, wo er lernte, den Rohstoff Bambus zum Bauen und Basteln zu verwenden. Stolz zeigt er uns seinen kleinen Shop, in dem sich selbstgemachte Tassen, Aschenbecher und Handyhalterungen stapeln.
Dann wendet sich unsere Aufmerksamkeit den anderen Gästen zu: Da ist zum einen Mona, die für ein paar Monate in Guadeloupe ist und erst im Mai wieder zurück nach Frankreich fliegt, wo sie in einem Naturreservat arbeitet. Emil, der sein Auto verkauft und im Sommer nach Europa segelt, wo – ebenfalls in Frankreich – ein neuer Job auf ihn warten wird. Der Schweizer Julian, der vor sechs Monaten hierher gekommen ist… und irgendwie den Moment verpasst hat, wieder zu gehen. Und Beatrice aus Haiti mit ihrem Hund Savi, die ein bisschen zu sehr dem Alkohol zugetan ist und gerne jedes männliche Wesen antanzt, das nicht schnell genug ihren Radius verlässt.
Und jetzt auch wir. Nicht gerade viele Besucher, aber der Ort ist ja noch im Aufbau. So ist es übersichtlich, gemütlich, ja, schon fast ein wenig familiär.
Rico und ich kommen im Hobbithaus unter. Erster Punkt auf der To-Do-Liste: Sachen waschen. Die stinken erbärmlich von der Wanderung. Alles ist mindestens einmal nass, wenn nicht sogar verschlammt geworden. Die Rucksäcke werden unter der Dusche auch gleich noch einmal ausgeschrubbt. Ein wenig Ordnung schaffen, Gepäck sortieren, Wlan genießen, kurz durchschnaufen. Das ist der Plan. Eine, vielleicht auch zwei Nächte. Das sollte genügen und dann kann es auch schon weitergehen. Denken wir!
Wie so oft kommt es anders. Bereits am selben Abend, als wir bereits Babu, den jungen roten Hostelkater, zusammen mit Julian von einem der Bäume im Dschungel gerettet haben und auf das Kunstatelier von Christian, Lous Vater, gestoßen sind, ist uns klar: Mindestens eine Woche sollte es schon werden. Rico freut sich besonders über das Klavier im Atelier, das sich in einem unscheinbaren Schuppen die Straße hoch versteckt. Ich stöbere mich begeistert durch Porträts, Gemälde, französische Gedichtbände, einen Notenstapel europäischer Walzer und entdeckte in einer willkürlichen Instrumentensammlung eine Kora, eine westafrikanische Stegharfe. Musik, Gesellschaft, gutes Wetter – was will man mehr?
In den folgenden Tagen leben wir uns in Tikazalou ein, als würden wir schon seit Jahren hierherkommen. Der Morgen beginnt zumeist mit einer Yogaeinheit zwischen den Sofas und dem Billardtisch. Eine schweißtreibende Angelegenheit, denn die Temperaturen schwanken bereits in den Morgenstunden um die 30 Grad.
Danach wird ausdiskutiert, wer heute Baguette holen gehen muss, anschließen gefrühstückt. Das Hostel liegt an der großen Straße, die einmal um Basse-Terre herumführt, allerdings außerhalb jeglicher Ortschaften. Zum Einkaufen bilden wir Fahrgemeinschaften oder trampen. Glücklicherweise gibt es wegen eines nahegelegenen Bungalowcamps eine kleine Bäckerei, die man zu Fuß erreichen kann. Auch zu dem kleinen aufgestauten Flussbecken, das hinter dem kleinen »Dschungelhintergarten« liegt, zieht es uns von Zeit zu Zeit. Ansonsten heißt es: Ausspannen, viel telefonieren, die feste Unterkunft genießen.
Am Montag nehmen mich die Franzosen mit zu »Jessicas Imbiss« im nahegelegenen Deshaies für ein spontanes Abendessen und bringen mir im Verlaufe des Abends eine Reihe lustiger und nicht ganz jugendfreier Ausdrücke auf Französisch bei, die mir später beim Trampen noch oft den ein oder anderen Lacher einbringen.
Wie wir schon zuvor gemerkt haben, hat das Trampen in Guadeloupe große Tradition. Der ausgestreckte Daumen am Straßenrand ist hier kein ungewöhnliches Bild. Entsprechend schnell wird man meistens auch mitgenommen, wobei es – fair gesagt – für Frauen immer noch um einiges leichter ist. Die meisten Autofahrer sind französische Touristen oder Einheimische. Beide Gruppen sprechen mit etwa 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit (Statistik beruhend auf meinen Erfahrungen xd) kein oder nur sehr wenig Englisch. Die entschuldigende Phrase »Je ne parle pas français.« gehört daher schnell zu meinem Standardrepertoire beim Einsteigen. Zusammen mit ein paar gelernten, lustigen Sätzen und spärlichen Vokabeln zum Beschreiben meiner Reise wird letztlich dennoch zumeist eine unterhaltsame Atmosphäre hergestellt.
Während ich fleißig an meinem Blog schreibe, Bankdinge in Ordnung bringe und meinen Geburtstag vorbereite, fährt Rico an einigen Tagen zusammen mit Julian zum Tauchen. Begeistert zeigen mir die beiden nach den Tauchgängen Fotos von Julians Unterwasserkamera. »Da! Eine Muräne. So klein, das muss noch ein Baby gewesen sein!« Rico ist so begeistert, dass ich irgendwann auch Lust bekomme, es einmal auszuprobieren. Schon Tom von der Pepa und Christian von der Tarpan, die beide als Tauchlehrer gearbeitet haben, haben mir diese Sportart wärmstens ans Herz gelegt. Als meine Eltern mich dann zum wiederholten Mal fragen, was ich mir denn nun zum Geburtstag wünsche, weiß ich endlich eine Antwort: »Einen Tauchschein!«
Tauchscheine gibt es nicht wenig und das von den verschiedensten Organisationen. In Guadeloupe werden beispielsweise auch die Lehrgänge des französischen Tauchverbandes Fédération Française d'Études et de Sports Sous-Marins (FFESSM) angeboten. International anerkannt und weltweit verbreitet sind hingegen vor allem die Professional Association of Diving Instructors (PADI) und Scuba Schools International (SSI). Empfohlen wurde mir, mit der Open Water Diver License (OWD) nach PADI- oder SSI-Standards anzufangen. Mit dem OWD darf man gemeinsam mit einem brevetierten Tauchpartner oder einem Tauchprofi Tauchgänge mit einer maximalen Tiefe von 18 Metern planen und durchführen. Der Kurs vermittelt die Theorie der Grundlagen des Sporttauchens, alle sicherheitsrelevanten Aspekte und den Umgang mit der eigenen Tauchausrüstung.
Am Mittwoch rufe ich noch meinen kleinen Bruder an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren und wie jedes Jahr daran zu erinnern, dass er ja laut all den Erwachsenen »das schönste Geschenk zu meinem fünften Geburtstag« war und mir damit eigentlich noch auf ewig Tribut schuldig ist. Ein kleiner Gag, der niemals alt wird. ^^
Danach mache ich mich auf den Weg nach Pointe-à-Pitre, wo ich hoffe, noch einige Dinge für meine Feier besorgen zu können, die es in den umliegenden Läden nicht gegeben hat. Das Trampen zieht sich, sodass ich erst am späten Nachmittag in der Hauptstadt ankomme. Die meisten Läden haben bereits geschlossen und so schlendere ich etwas ziellos durch die Straßen, als plötzlich ein schwarzes Auto neben mir hält. Der Mann am Steuer quatscht mich auf Französisch voll. Ich zucke mit den Schultern. »Je ne parle pas français.«
»Wo willst du hin?«, fragt er auf Englisch. Ich zeige die Straße entlang. »In die Stadt«, antworte ich vage. »Einkaufen.«
»Ich kann dich begleiten. Ich fahr dich. Wo willst du einkaufen?«
Bei den hartnäckigen Angeboten kommt in mir ein unangenehmes Gefühl auf. Abwehrend hebe ich die Hände. »Ich bummel ein bisschen. Das kann dauern. Aber vielen Dank für das Angebot.«
Der Mann lässt nicht locker. »Ich kann dich nachher nach Hause fahren. Wo wohnst du?«
»Weit weg. Auf der anderen Seite von Guadeloupe.«
»Da muss ich auch hin! Hier nimm meine Telefonnummer, ich bringe dich nachher.«
Die Geschichte ist mehr als unglaubwürdig, zumal »auf der anderen Seite von Guadeloupe« alles bedeuten kann. Um ihn abzuschütteln, schreibe ich mir halbherzig seine Telefonnummer auf und lösche sie zwei Straßen weiter wieder aus meinem Handy. Gruseliger Typ. Als ich später zum Busbahnhof gehe, um einen Bus nach Deshaies zu erwischen, mache ich lieber einen Bogen um alle weiteren schwarzen Autos.
Donnerstag, 21.3.2024. Mein 20. Geburtstag! Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Geburtstage liebe? Es muss nicht einmal mein eigener sein. Man freut sich des Lebens, Menschen kommen zusammen, es gibt einen Grund zum Feiern. Gute Stimmung garantiert.
Leider haben es die Freunde aus unserer alten Segeltruppe nicht geschafft, zu kommen – sie legen am selbigen Tag noch nach Îles des Saintes ab. Vermutlich wäre es auch ohne das ein zu großer logistischer Aufwand geworden, von ihrem Ankerplatz aus zum Hostel und wieder zurück zu kommen. Auch die Hippies, die wir auf Marie-Galante kennengelernt hatten, und die ich ebenfalls eingeladen hatte, schaffen es nicht – allerdings aus Krankheitsgründen, denn Marin liegt mit einem durchstochenen Fuß im Krankenhaus. Üble Geschichte. Ich sende Genesungswünsche und fange damit an, Kuchen zu backen. Brownie und Erdbeertorte. Es war nicht leicht, an alle Zutaten zu kommen, umso glücklicher macht es mich, heute meine absoluten Lieblingskuchen verputzen zu können. Zwischendurch rufen Freunde und Familie an, übermitteln mir Glückwünsche und lassen sich nur zu gerne vom Leben in der Karibik berichten.
Schnell ist es Abend. Wir hängen Luftballons auf, knipsen die Lichtketten an und stellen die Musik lauter – Partytime! Es wird gelacht, gespielt, getanzt… Als wir später aus Lärmschutzgründen die Musik ausstellen müssen, holt Emil seine Gitarre hervor und gibt ein Lied zum Besten. Glücklich und mit einem Lächeln auf den Lippen lege ich mich – weit nach Mitternacht – ins Bett. Jetzt bin ich in den Zwanzigern. Was sie wohl bringen werden?
In mein Tagebuch hatte ich noch am Abend zuvor geschrieben: »In weniger als einer halben Stunde werde ich zwanzig Jahre alt sein (in Deutschland bin ich es bereits). Die Teenagerjahre sind vorbei. Der letzte Abschnitt der Kindheit. Die 20er beginnen. Und alles liegt vor mir. In meinen Zwanzigern werde ich Südamerika erreichen. Einen Punkt auf meiner Löffelliste abhaken. Ich werde mit dem Studium beginnen. Ich werde neue Leute kennenlernen und vielleicht ein paar alte verlieren. Ich werde kleine und große Entscheidungen treffen, schlechte und gute. Vielleicht fühlt es sich deshalb nach so einem großen Schritt an, von 19 zu 20. Weil das Erwachsenwerden beginnt (und es wird lange nicht abgeschlossen sein, habe ich mir sagen lassen). Ein Teil von mir will zurück – in die Zeit vor dem Abschluss -, will morgens aufstehen und sich darauf freuen, in der Schule die Freunde wiederzusehen. Nachmittags ein Eis aus dem Kühlschrank nehmen und zum hundertsten Mal zu spät zur nächsten Geigenstunde losfahren. Abends mit Mama und Papa am Küchentisch sitzen und sich darüber wundern, wie um alles in der Welt Elias so viel essen kann. Abends im Bett liegen und sich auf die nächsten Ferien freuen.
Ein anderer Teil will das nicht. Er will die Welt sehen. Veränderungen miterleben, auch wenn sie bedeuten, dass etwas anderes zu Ende geht. Dieser Teil will, dass das Leben vorangeht, Neues und Unerwartetes mit sich bringt. Er will eine neue Sprache lernen, die erste eigene Wohnung beziehen, am Wochenende mit einer Freundin im Café sitzen und gossipen, auch wenn wir es nicht so nennen. Morgen beginnt ein neues Lebensjahr. Und wenn ich auf das alte zurückblicke, dann bitte ich darum, dass es ebenso aufregend sein wird – nur anders.«
Vielleicht ist das overthinking – ein Jahr älter, am Leben ändert das jetzt nichts groß. Aber Geburtstage geben mir jedes Mal die Chance, auf 365 Tage zurückzublicken und Bilanz zu ziehen. Neues anzugehen, etwas zu verändern, das mich schon länger gestört hat. Meine persönlichen Neujahrsvorsätze.
Genug von Geburtstagen. Das Leben in Tikazalou nimmt sein Lauf – und auch hier gibt es Veränderungen. Bereits am nächsten Abend ist es plötzlich brechend voll (was heißt – gleich vier neue Leute). Lou kommt auf uns zu und strahlt. »Danke!«, sagt er zu mir und grinst.
Im ersten Moment bin ich verwirrt, aber dann setzen sich im Gespräch mit unseren neuen Mitbewohnern die Puzzleteile langsam zusammen: Seit Portugal bin ich in einer Boat Hitchhiker Gruppe auf WhatsApp mit über 1000 Mitgliedern. Neben segelrelevanten Informationen werden hier von Zeit zu Zeit auch Reisempfehlungen und – tipps ausgesprochen. Weil mir das Klientel der Bootstramper und der Vibe in Tikazalou äußerst kompatibel vorkam, hatte ich einige Tage zuvor eine Nachricht in der Gruppe gepostet und das Hostel beworben. Damit scheine ich offene Türen eingerannt zu haben: Schon für April sind Anmeldungen eingetrudelt. Und Lou schwebt auf Wolke Sieben.
Unter den Neuankömmlingen ist auch die 30-jährige Spanierin Christina, die im Fernstudium Humanistik und Philosophie studiert und ansonsten in der Welt unterwegs ist, mal hier, mal dort arbeitet. Ihren Geschichten über Jakobswegwanderungen, Zeltabenteuern und das Leben in Teneriffa könnten Rico und ich stundenlang zuhören. Schnell trifft man uns häufig zu dritt an – sei es beim Morgenyoga, beim gemeinsamen Kochen oder beim Schwimmen am versteckten Plage Bosco, einer traumhaften Bucht in der Nähe des Hostels. Interessante und aufgeschlossene Menschen zu finden – das ist beim Reisen echt nicht schwer.
Am Montag begleite ich Julian und Rico zur Tauchschule zwecks Einschreibung für den OWD-Schein. Während sich die Jungs für ihren Tauchgang vorbereiten, stehe ich mit Gaelle zusammen und schaue nach passenden Termin. »Mal sehen«, sagt Gaelle und blättert durch ihr Auftragsbuch. »Du könntest morgen um 8 Uhr anfangen oder… heute.« Ich mache große Augen. »Heute?« Gaelle nickt. »Um Zwei. Ein Platz ist noch frei. Drei andere haben heute auch ihren ersten Tauchgang.« Ich werfe einen Blick auf mein Handy. 13:50 Uhr. »Also… jetzt?«
Zehn Minuten später sitze ich mit Neoprenanzug, Schwimmbrille und Taucherflossen auf einem großen Schlauchboot, umgeben von munter schwatzenden Franzosen aus Versailles und drei Freunden – ebenfalls Franzosen – die heute zu meiner Gruppe gehören. Zaghaft winke ich Julian und Rico zu, die am anderen Ende des Bootes Platz genommen haben. Dann geht es auch schon los. Wie ein bockiges Pferd brettern wir über die Wellen, dass es einen bei manchen Sprüngen fast vom Rand des Bootes wirft.
An einem Kliff, das zum Reservat von Guadeloupe gehört, machen wir schließlich Halt. Rico und Julian ziehen mit ihrem Tauchinstrukteur Bruno los, die Versailler Franzosen machen sich ebenfalls auf den Weg in die Tiefe. Jetzt sind wir nur noch zu viert: Julian, der Tauchlehrer, drei junge Franzosen und ich. Julian hilft mir, die Sauerstoffflaschen mit der Tarierweste aufzusetzen. Ich nehme den Atemregler in den Mund und teste ein paar Atemzüge. Ein bisschen schwerer als normal, aber geht. Julian bläst meine Weste ein Stück auf, legt meine Hände vor die Taucherbrille und an den Hinterkopf und bedeutet mir dann, mich nach hinten ins Wasser fallen zu lassen. »Was?!« Ein paar Sekunden schaue ich ihn nur aus großen Augen an. Und wenn ich jetzt untergehe? Die Sauerstoffflaschen sind irre schwer, das macht mir ein wenig Angst.
Schließlich siegt dann doch mein Abenteurermut und ich lasse mich rückwärts vom Boot ins tiefe Wasser fallen. Die Luft in der Weste lässt mich schnell wieder an der Oberfläche treiben. Im Endeffekt doch gar nicht so beängstigend.
Als alle im Wasser sind, zeigt Julian uns, wie wir die Luft aus der Weste entweichen lassen können. Mit klopfendem Herzen betätige ich den grauen Knopf am Inflatorschlauch und fange augenblicklich langsam an zu sinken. Wie man es mir vorher erklärt hat, versuche ich, langsam und regelmäßig durch den Atemregler Luft zu holen. Ein seltsames Gefühl. Irgendwie kann ich nachvollziehen, dass es Leute gibt, die dabei in Panik verfallen. Durch die Schwere des Tauchequipments fühlt es sich nicht so an, als könnte man im Notfall schnell zur Oberfläche zurückkehren. Das sollte man beim Tauchen im besten Fall auch gar nicht, denn ab größeren Tiefen besteht bei zu schnellem Auftauchen die Gefahr einer Dekompressionskrankheit.
Die Dekompressionskrankheit, auch bekannt als »Taucherkrankheit« oder »Caisson-Krankheit«, ist eine ernste medizinische Notlage, die auftreten kann, wenn ein Taucher zu schnell von hohen Druckniveaus in der Tiefe auf normale Druckniveaus an der Oberfläche aufsteigt. Dies geschieht, wenn gelöste Gase wie Stickstoff im Gewebe des Körpers während des Tauchens unter Druck gelangen und sich bei zu schnellem Auftauchen nicht ordnungsgemäß auflösen können. Die Symptome können von leichten Gliederschmerzen und Hautausschlägen bis hin zu schwerwiegenden neurologischen Problemen und lebensbedrohlichen Zuständen reichen. Die Behandlung umfasst in der Regel die Sauerstofftherapie in einer Druckkammer, um die Gase im Körper zu reduzieren und den Sauerstoffgehalt zu erhöhen. Die Prävention beinhaltet eine angemessene Tauchausbildung, die Einhaltung sicherer Aufstiegsgeschwindigkeiten und gegebenenfalls die Verwendung von Dekompressionsstopps während des Aufstiegs.
Nach dem ersten Schock kann ich meinen Tauchgang letztendlich doch noch genießen – auch in den folgenden Tagen freue ich mich auf die Lehrgänge, bei denen wir die atemberaubende Korallenwelt unter Wasser bestaunen, interessante Fischarten entdecken und sogar eine riesige Schildkröte zu Gesicht bekommen, die gerade von einem ausgewachsenen Barrakuda angegriffen wird. Die Ausbildung umfasst sechs Tauchgänge und einen Theoriekurs, den ich in einer App absolvieren kann. Am Ende gibt es einen kleinen Multiple-Choice-Test.
Zwar kann man sich beim Tauchen nicht unterhalten, dafür wird davor und danach (gerne mit einem Gläschen Planteur – Rum und Guavensaft -, das immer bereit steht) umso mehr gequatscht. In diesem Zuge lerne ich auch den Franzosen und Schauspieler Laurent kennen, der gerade mit seinen Eltern einen zweiwöchigen Urlaub in der Nähe der Tauchschule verbringt. »Was, du warst in deinem Leben nur einen Tag in Paris?«, fragt er ungläubig, nachdem ich ihm von meinen bisherigen Frankreicherfahrungen erzählt habe. »Dann hast du Paris nicht wirklich gesehen. Es ist viel mehr als der Eiffelturm und der Arc de Triomphe. Man muss die kleinen Dinge sehen, die versteckten Orte!« Als er eine Woche später abreist, habe ich eine Einladung nach Paris in der Tasche – ein Angebot, dem ich mit Sicherheit eines Tages nachgehen werde. Wann hat man schon einmal die Chance, die französische Hauptstadt aus Sicht eines Parisers zu entdecken?
Und noch eine unverhofft tolle neue Bekanntschaft hält das Tauchen bereit: Als wir am Freitag nach Bouillante fahren, wo heiße Thermalquellen vulkanischen Ursprungs das Meerwasser in eine Badewanne verwandeln, über die einige Leute Slacklines gespannt haben, treffe ich zufälligerweise auf David, den wir einige Tage zuvor bei einem Tauchgang kennengelernt hatten, als er Anweisungen der französischen Tauchlehrer für mich ins Deutsche übersetzt hatte. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Töchtern (die ich in meinem Blog ausdrücklich nicht als frech bezeichnen sollte – wie David es vorgeschlagen hatte -, weshalb ich es an dieser Stelle gerne noch einmal extra hervorhebe – liebe Grüße an dieser Stelle ^^) ist er über die Osterferien aus Deutschland hierhergekommen. Wir unterhalten uns zu fünft bestimmt eine gute Stunde lang im warmen Wasser, das einen schnell vergessen lässt, dass es langsam dunkel und spät wird. Irgendwann kommt Rico mich aus dem Meer fischen, denn wir haben inzwischen Pizza bestellt und wollen noch in eine von Julian empfohlene Tanzbar. Schweren Herzens verabschiede ich mich – aber wer weiß, vielleicht sieht man sich an anderer Stelle ja noch einmal wieder. ;)
Am Sonntag – es ist Ostern – mache ich mich frühmorgens auf den Weg nach Pointe Noire zur Église catholique Notre-Dame-de-l´Assomption à Pointe-Noire (was für eine Name!), um dort den Ostergottesdienst zu feiern. Die zumeist älteren Besucher sind allesamt sehr adrett gekleidet, zumeist in weiß mit gelben Schals. Ein Chor singt, teilweise sogar auf Kreol, und klatscht beschwingt. Ganz so ausgelassen, wie ich es mir vorgestellt hatte, wird es allerdings nicht. Auch die Gemeindemitglieder bleiben reserviert, als ich später versuche, etwas über die Traditionen und den Kleidungsstil herauszufinden – vielleicht auch, weil ich die augenscheinlich einzige Fremde in der Kirche gewesen bin.
Irgendwann in diesen Tagen beschließe ich dann doch, dass es Zeit für mich wird, weiterzuziehen. Sechs Wochen Guadeloupe – das ist dann doch etwas länger geworden als die drei, vier Tage, die ich eigentlich geplant hatte. Weil ich immer noch ständig mit Seekrankheit zu kämpfen habe (selbst auf dem Schnellboot vor dem Tauchen habe ich damit Probleme), entscheide ich mich dagegen, wie geplant ein Boot von Guadeloupe oder Martinique ans südamerikanische Festland zu suchen. Stattdessen habe ich recherchiert und mir einen Masterplan zurechtgelegt – Grundidee ist: sich entlang der Inseln so häufig wie möglich mit Fähren gen Süden durchschlagen und nur kurze Strecken auf Segelbooten trampen. Bis nach Grenada sind das relativ kurze Etappen. Und von dort aus vielleicht noch ein zweitägiger Segeltrip. Nach langem Zögern buche ich schließlich das erste Fährticket nach St. Lucia. Das Abfahrtsdatum steht fest. Einerseits löst das Vorfreude aufs Weiterkommen aus, andererseits setzt bereits mit dem Kauf die Wehmut ein – nach dem Ort und den Menschen, die mir hier so sehr ans Herz gewachsen sind. Für Rico steht fest: Er wird noch einige Zeit in Tikazalou bleiben. Christina vermutlich ebenfalls: Ihr Flug nach Barcelona geht erst im Mai.
Zunächst aber bestehe ich erfolgreich meine OWD-Lizenz, besuche die berühmten Wasserfälle Saut d’Acomat und an einem Abend zusammen mit Christina, Mona und Emil ein Reggae-Konzert. An meinem vorletzten Abend zeigt uns André, ein Freund von Lou und so ziemlich das Klischee, wenn es um Männer aus der Karibik geht, wie man Zouk tanzt. Die ausgeprägten Hüft- und Schulterbewegungen bringen uns schnell zum Lachen – sehr zum Verzweifeln unseres mehr als ambitionierten Tanzlehrers.
Der karibische Tanz Zouk ist ein leidenschaftlicher und sinnlicher Tanzstil, der seinen Ursprung auf den Inseln Guadeloupe und Martinique hat. Geprägt von einer Mischung aus afrikanischen Rhythmen, karibischer Musik und europäischen Einflüssen, ist der Zouk bekannt für seine fließenden Bewegungen, enge Tanzpositionen und die emotionale Verbundenheit zwischen den Tanzpartnern. Ursprünglich entstand der Tanz (der im Übrigen eher von Älteren getanzt wird, wie wir später erfahren müssen) in den 1980er Jahren und hat sich seitdem zu verschiedenen Stilen weiterentwickelt, darunter der traditionelle Zouk Love und der moderne Zouk Fusion.
Nach einem Abend mit langen Gesprächen, Billiardrunden und Mitternachts-Vanillepudding ist er schließlich da: Donnerstagmorgen. Der Tag der Abreise. Irgendwie unwirklich. Von der Bäckerei aus Deshaies hole ich allerlei Leckereien und stelle sie auf den Küchentisch. »For everyone. Lots of love, Rebecca« steht auf einem Schildchen davor.
Morgenyoga. Frühstück. Sachen zusammenpacken. Ein letztes Mal Klavier spielen gehen im Atelier. Christina steckt mir noch ein kleines Armbändchen zu. Ultreia steht darauf. »Das bedeutet so viel wie ‘Vorwärts!‘ ‘Weiter!‘«, verrät sie mir. Eine Begrüßung auf dem Jakobsweg. »Eine Erinnerung, dass du ihn eines Tages auch gehen wirst.«
Jeder bekommt eine lange Umarmung. Rico grinst. »Bis vielleicht in Berlin irgendwann einmal!« »Wer’s glaubt!« Es ist schwer, ihn dort mal anzutreffen, das habe ich aus seinen Reisegeschichten herausgehört. Nach zweieinhalb Monaten gemeinsamen Reisens trennen sich hier unsere Wege – eine Zeit, auf die ich definitiv gerne zurückblicke. Aber wie heißt es so schön? Man soll immer dann gehen, wenn’s am Schönsten ist.
Ich atme tief durch und werfe nochmal einen Blick zurück. Christina und Rico winken mir zu. Dann drehe ich mich um und laufe zur Straße, um nach Pointe-à-Pitre zu trampen. Ein neuer Abschnitt beginnt. Ich bin wieder auf mich allein gestellt.
Fotos by @Rico @David @Julian @Me
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