Basse-Terre, Guadeloupe
März 2024
Es regnet. Mal wieder.
Die bunten Regencapes leuchten unter den dunklen Wolken, als wir unsere Rucksäcke den Hügel hoch zur Straße schleppen. Wir müssen dringend etwas aussortieren.
Trace des Alizés. Oder auch GR G1. So soll der nächste Abschnitt unserer Reise heißen. Ein sechstägiger Weitwanderweg quer durch den Dschungel von Basse-Terre. Bereits am Morgen hatten wir mit Saras Hilfe bei der örtlichen Nationalparksbehörde angerufen (und den diensthabenden Mitarbeiter vermutlich aus dem Bett geklingelt. Wer ist denn um 8 Uhr hier schon wach) und erfahren, dass der Pfad durch einen Erdrutsch 2019 nicht mehr in seiner Gänze begehbar ist. Also abschnittsweise.
Aber zunächst müssen wir einen Ort finden, an dem wir einen Teil unseres Gepäcks lassen können. Die Essens- und Trinkvorräte benötigen Platz in den Rucksäcken und unsere Laptops wollen wir auch nicht unbedingt mit durch den Dschungel transportieren. Wir fragen Natalie, eine elsässische Einwanderin, die uns beim Trampen mitnimmt, um Rat. Ob sie einen Ort kenne, an dem man für ein paar Tage etwas zwischenlagern könnte? »Stellt eure Sachen bei mir ab«, kommt postwendend die Antwort zurück, »Ich habe ein Zimmer, das nutzt eh keiner.« Kurzerhand werden wir in ihre Pension Karukera Sunset in der Nähe von Bouillante mitgenommen… und unvermittelt mit der Vergegenwärtigung des Konzepts Paradies konfrontiert.
Natalies Haus steht mit Stelzen am Hang eines kleinen, grün bewachsenen Hügels. Das offene Wohnzimmer gibt den Blick auf das Meer und die vor der Küste liegenden Pigeon Islands frei. Die Inventur der Ferienhäuser sei aus Bali importiert, überall stehen Pflanzen herum, gerettete Katzen streifen um unsere Beine. Orangenes Licht der tiefstehenden Sonne taucht die weißen und hölzernen Wände in einen sanften Schimmer. Wir sind hingerissen und bekommen sogleich ein Glas Wasser angeboten. »Wir haben das Grundstück vor einigen Jahren zu einem guten Preis erworben und stetig ausgebaut«, erzählt uns Natalie. »Eine gute Investition. Heute ist es das Vierfache wert. In ein paar Jahren möchte ich verkaufen und auch um die Welt reisen. Die Arbeit mit der Pension wird langsam zu schwer für mich.« Wer lange in solch einem Paradies wohnt, der nimmt es vermutlich nach einiger Zeit nicht mehr als solches wahr, vermuten wir und zögern unseren Aufbruch immer weiter hinaus. Aber die Idylle trüge auch ein wenig, sinniert Natalie. Ein Großbauprojekt sei nebenan geplant, viel zu umfangreich für die Wasserversorgung der Region. Die umliegenden Gasthäuser haben sich zusammengeschlossen, um dagegen vorzugehen. Aber ob das reicht? Klingt schon fast wie aus einem Film.
Karukera ist der kreolische Name für Guadeloupe und bedeutet »Insel des schönen Wassers«.
Irgendwann wird es dann doch Zeit, aufzubrechen. Unten im Supermarkt decken wir uns mit Essen für die nächsten Tage ein und tuen uns an einer geschnippelten Ananas frisch vom Obststand an der Straße gütlich. Dann geht es wieder an die Straße. Daumen raus. Warten. Ein Gemüsehändler hält an. Begehrlich starre ich schon auf das skurrile Gefährt, das er mit sich führt. Darin mitfahren? Bestimmt ein kleines Erlebnis. Daraus wird allerdings nichts. In gebrochenen Englisch teilt er uns mit, nur angehalten zu haben, um uns mitzuteilen, dass er uns leider nicht mitnehmen kann. Ein Fall von etwas übertriebener Höflichkeit. ^^
Das Glück meint es doch gut mit uns und so sitzen wir nur wenige Minuten später im Auto von Robert, einem Franzosen, der hier in Guadeloupe Häuser renoviert. Er möchte auf die Ostseite von Basse-Terre – genau unsere Richtung! Weil wir unsere Sachen so schnell losgeworden sind, haben wir unseren Plan, eine Nacht am Strand zu verbringen, verworfen, und wollen nun direkt zur ersten Hütte wandern, die den Wanderweg säumen. Vom Wanderparkplatz an der Intersection, die einzige Straße, die den Dschungel einmal durchquert, sind das nur 15 Minuten, sagt MapsMe.
»Au revoir!«, ruft Robert und braust davon. Wir schultern unsere Rucksäcke und schauen uns um. Ein paar Briten ziehen sich gerade ihre schlammverspritzen Wanderschuhe aus und teilen uns mit, der Weg hoch auf den »Mamelle de Pidgeon« sei »terribly muddy«. Wir checken die Zeit. »Noch mehr als zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang«, bemerke ich. »Wollen wir den Gipfel noch mitnehmen?«
Nach einigen Hin- und Herüberlegen verstecken wir unser Gepäck im Gebüsch am Wegesrand und laufen die für eine halbe Stunde ausgewiesene Strecke auf den 768m hohen Gipfel in exakt der vorgegebenen Zeit. Oben steht ein Hochstand, auf dessen Bank jemand ein paar Flaschen deponiert hat. Rico öffnet vorsichtig den Deckel und riecht daran. Dann grinst er. »Ti Punch. Typisch Guadeloupe.«
»Ich frage mich, was die Briten dazu gesagt hätten!« Vorsichtig setze ich meinen Fuß einen Schritt weiter und sinke bis zu den Schienbeinen ein. Wasser und Schlamm laufen in meinen Schuh. Na gut, jetzt ist es auch egal. Unvermittelt verlasse ich den Rand des Weges und stapfe quer durch das Schlammfeld zu Rico hinüber. 15 Minuten sind wir unterwegs – und haben gerade einmal die Hälfte des Weges geschafft. Zu sehr bremst uns der nassweiche Waldboden aus. Hier kommen nicht viele Leute lang.
Als wir die Schutzhütte endlich erreichen, wird es schon langsam dunkel. Heimelig und standfest schälen sich die Umrisse der Abri du Morne Léger aus dem Dämmerlicht. Vögel schreien sich die Lunge aus dem Leib, Insekten brummen und… war da nicht ein Rascheln? Auf der Website des Nationalparks stand, dass es in Guadeloupe Jaguare geben soll. Ein Einheimischer beruhigt uns dahingehend später, aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Bloß schnell ins Haus kommen!
Die Refuges, wie die Schutzhütten genannt werden, begleiten den GR G1 auf seinem Weg von Norden nach Süden. Anders wäre der Wanderpfad nicht zu bewältigen, denn einen Platz zum Zelt aufschlagen sucht man in den verschlammten Hängen vergebens. Die Selbstversorgerhütten wurden von der Nationalparksverwaltung zur Verfügung gestellt und können ohne Schlüssel von Wanderern genutzt werden – viele sind das nicht, denn wer nicht explizit danach im Internet sucht, weiß nicht, dass sie existieren. Selbst einige Einheimische, denen wir später davon erzählen, haben noch nie davon gehört, dass es so etwas auf ihrer Insel gibt. Alle Hütten – sechs an der Zahl – sind nach demselben Muster gebaut: außen ein Regenwassertank für Trinkwasservorräte, daneben ein überdachter Eingang mit Tisch, hinter der Tür ein großer Raum mit noch größerem Tisch und Eisenringen in den Wänden zum Hängematte aufhängen. Daneben ein kleiner, offener Raum mit Doppelstockbetten-Gestellen und darüber ein Hochbett. Nackte Latten, selbstverständlich, Schlafsack und Isomatte muss man sich selbst mitbringen. Bei der eisernen Falltür am Boden gruselt es mich zunächst etwas, bis wir ihren Nutzen herausfinden: Im Loch darunter ist mitgebrachtes Essen vor Ratten geschützt. Vor denen muss man sich hier nämlich mehr in Acht nehmen als vor Jaguaren.
Im Haus finden wir eine zurückgelassene Kerze, deren warmer Schein gegenüber den kalten Taschenlampen zur Lichtquelle auserkoren wird. Zum Abendessen: Noodles and pasta :) Im letzten Tageslicht wird draußen gekocht und sich zum Essen nach drinnen zum Candlelightdinner verzogen. Ganz im Dunkeln, mitten im Wald mit all den Geräuschen… das ist in der ersten Nacht noch ziemlich unheimlich… Trotzdem ist es schön, einfach im Dschungel übernachten zu können. Ohne Guide, ohne Massen an Touristen, ohne giftige Tiere fürchten zu müssen.
Am nächsten Morgen werden wir vom Schnarren zweier heuschreckenähnlichen Insekten geweckt, die es sich unter dem Dachfirst bequem gemacht haben und eine Unterhaltung von höchster Brisanz zu führen scheinen.
Draußen geht langsam die Sonne auf. Wir packen zusammen, steigen in die klammen Schuhe vom Vortag und laufen los. 4h auf 15km, sagt MapsMe. Weil wir gestern schon das Doppelte an Zeit gebraucht hatten, rechnen wir mit einer 8-stündigen Wanderung. Schnell wird uns allerdings klar: Auch das ist noch zu knapp berechnet. Nicht nur Schlamm und Pfützen bremsen uns aus, auch schmale Gratwanderungen auf rutschigem Terrain, ebenso wie steile Auf- und Abstiege verlangsamen uns und zehren schnell an unseren Kräften. Zudem sind die Wege zwar gut markiert, aber kaum begangen. Unzählige Male ziehen wir Spinnweben hinter uns her, die über dem Weg hingen.
Auf dem 632m hohen Gipfel Morne Leger legen wir eine Frühstückspause ein und treffen auf den Franzosen Valentine, der einen kurzen Morning Run hierher gemacht hat und nun wieder zurück zum Auto läuft. Er wird der Einzige sein, dem wir auf unserer Wanderung im Norden von Basse-Terre begegnen. In einer späteren Hütte erfahren wir aus einem Hüttenbuch, dass im Durchschnitt etwa einmal pro Woche hier jemand vorbeikommt. Wer einen einsamen und herausfordernden Hike sucht, der kann mit dem GR G1 nichts falsch machen.
Mittag gibt es irgendwann – mangels trockener Plätzchen – mitten auf dem Weg. Wir wollen keine Zeit verlieren, liegen schon deutlich hinter dem antizipierten Plan zurück. Teilweise muss geklettert werden, besonders ohne Bäume zum Festhalten kann das hier schnell gefährlich werden. Geht es auf einem Grat mal wieder mit schlammigen Grund steil nach unten, setzen wir uns auch mal auf den Hosenboden und rutschen ein Stück. Schneidegras säumt zu Dutzenden die Wege und ritzt uns die Arme und Handflächen auf. Am Nachmittag beginnt es, ohne Unterlass zu schütten. Halten die mächtigen Baumriesen den Regen zunächst noch in ihren Kronen auf, sind wir bald von oben bis unten durchweicht. Egal, weiter. Bei jedem Schritt schmatzt mein Schuh. Schlamm sickert oben heraus und fließt bei der nächsten Pfütze wieder nach. Ich frage mich, ob ich meine Wandersocken jemals wieder sauber bekomme.
Irgendwann beginnt es zu dämmern. Auch wenn wir uns hier auf einem der Hügel befinden müssen, geht das dank der Bäume schnell vonstatten. Das Ziel? Noch lange nicht in Sicht. Unsere Füße sehen so aus, als hätten wir den gesamten Tag im Wasser verbracht, meine Schuhe haben sich zu Swimming Pools transformiert. Rücken, Beine, Füße… alles tut uns weh und ist erschöpft. Aber beklagen hilft nicht, wir müssen zur nächsten Hütte, denn draußen schlafen ist keine Option. Also weiter. Etwas schneller vielleicht. Nicht rennen. Aber zügig. Wollen nicht am Ende mit Taschenlampen durch den Dschungel rennen müssen. Der Regen setzt noch einen nach. Na danke auch.
Als die Abri du Belle Hôstesse endlich vor uns auftaucht, verschwindet gerade das letzte Tageslicht aus den Baumkronen. Schlammverspritzt, durchnässt und verschwitzt fallen wir uns in die Arme. Geschafft!
Und keine Sekunde zu früh – nur zwei Minuten später ist es stockdunkel. Stetig prasseln die Regentropfen auf die großen Farne und Baumkronen, die die Hütte umgeben. Mehr schlecht als recht versuchen wir, unsere Schuhe und Kleidung am Wassertank auszuwaschen. Aber als der braune Strahl nicht enden will, geben wir es dann doch auf, ziehen uns mit einem schnellen Abendessen und abgepacktem Kuchen in den Unterschlupf zurück und kriechen kurz darauf selig in unsere Schlafsäcke. Dieses Mal braucht es nicht einmal die summenden und zwitschernden Klänge des Dschungels, um friedlich wegzuschlummern.
Als wir am nächsten Nachmittag aus dem Wald heraus auf die Straße treten, können wir es kaum fassen, nur drei Tage weg gewesen zu sein. Zu intensiv, zu anstrengend und zugleich so bezaubernd waren die letzten 72 Stunden in der Natur. Nun hat uns die Zivilisation wieder. Zumindest zunächst.
Erster Stopp ist selbstverständlich – wer hätte es anders vermutet – Grande Anse, der Strand. Um wieder richtig sauber zu werden, hüpfen wir einfach gleich mit unseren Sachen in die Wellen. Das tut gut.
Danach Lagebesprechung – die nächste Etappe des GR G1s, die wir machen wollten, liegt ganz im Süden, auf der anderen Seite Basse-Terres. Der Aufstieg zur Hütte wird auch noch einmal einiges an Zeit in Anspruch nehmen. Das werden wir heute nicht mehr schaffen. Am Strand zu schlafen ist auch keine Option. Mein Zelt haben wir bei Natalie stehen lassen und aufgrund der spontanen Regengüsse in der Nacht sollte man möglichst auch nicht unter freiem Himmel übernachten.
Kurzerhand buchen wir ein Zimmer im »Gite la troisiéme chute« in Capesterre, dem Ausgangpunkt unserer Wanderung. Da müssen wir nur auch erst einmal hinkommen.
Also wieder an die Straße. Ein Tellerwäscher nimmt uns in seinem von Orangenschalen bevölkerten Auto mit ins Zentrum von Deshaies. Von dort geht es mit Válerie und ihrem Hund weiter nach Ferry. Hier werden wir von Lou eingesackt, einem weitgereisten Einheimischen, der zwischen Ferry und Deshaies zurzeit ein Eco-Hostel aus Bambus aufbaut. »Wenn ihr Zeit habt, schaut doch mal vorbei!«, schlägt er uns vor. »Ihr werdet kein preiswerteres Hostel in ganz Guadeloupe finden!« Weil man ihn online noch nicht finden kann, tauschen wir Kontakte aus und stehen kurze Zeit später an der Abzweigung zur Intersection in Mahaut.
Von hier aus trampen wir mit Jaudhy und Cami, einem französischen Touri-Pärchen, in den Osten der Insel und steigen – aus Versehen – etwas verfrüht in Prise d’Eau aus. Das letzte Stück bis Petit-Bourg, dem nächsten Etappenziel, nehmen uns Carol und Ethan mit. Dort stehen wir nun an einem Kreisverkehr an der Ausfahrt nach Capesterre. Etwa eine halbe Stunde reine Fahrzeit liegt noch vor uns. Langsam geht die Sonne unter. Wir werden unruhig. Es ist nie schön, im Dunkeln zu trampen. Außerdem müssen wir bis 20 Uhr in der Unterkunft eingecheckt haben. Auch um unsere Handyakkus steht es nach drei Tagen im Dschungel nicht zum Besten.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite räumen gerade ein paar Obsthändler zusammen. Als ich hinübergehe und ein paar Bananen kaufe, schenken sie mir ein Bündel extra oben drauf dazu. »Merci beaucoup!«, bedanke ich mich freudestrahlend und kehre zu Rico auf unseren Trampplatz zurück. Der hat inzwischen mit unserem Vermieter geschrieben. »Er holt uns ab! Wir sollen eine Stunde warten, dann ist er hier.« Was für eine Erleichterung! Wir setzen uns auf den Boden und beobachten das Flackern der Straßenlaternen, deren Zustand bedauernswert ist.
Wir warten keine fünf Minuten, da hält plötzlich ein Reisebus neben uns an. Ohne, dass wir den Daumen herausgestreckt hätten. Er sei auf dem Heimweg nach Capesterre, meint der Fahrer, und er könne uns mitnehmen. Wir werfen uns einen Blick zu, dann steigen wir ein. Neben uns und dem Fahrer sind nur zwei Mädchen mit an Bord, seine Töchter, wie wir erfahren. Die Fahrt verläuft ruhig, nur die Klimaanlage gibt von Zeit zu Zeit ein Brummen von sich. Erschöpft vom Tag lehne ich meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und schaue nach draußen. Die Schatten dunkler Bäume ziehen vorbei, von Zeit zu Zeit blinkt das Meer zwischen ihnen auf.
Wir geben einem der Mädchen Ricos Handy und sie erklärt unserem Vermieter auf Französisch, wo sie uns rauslassen werden. Eine Viertelstunde später sitzen wir auf einem Bordstein einer gottverlassenen Straße im Stadtzentrum von Capesterre und warten. 20 Minuten, hat man uns gesagt.
»Bonsiorrrrrrr!!!!« Ein Auto hält mit quietschenden Reifen. Zwei sehr angetrunkene Frauen springen heraus und beginnen sogleich, uns auf Kreol vollzuquatschen. Ihr Fahrer, ein eher zurückhaltender Mann mittleren Alters, bleibt auf Abstand und lehnt sich gegen die Tür.
»Our uncle!«, erklärt uns die Kleinere der beiden und zeigt auf den Mann. Jetzt haben sie die Ausländer in uns erkannt. Oder unsere fragenden Gesichter bemerkt.
»What are you doing here?« Das Gesicht der Frau kommt uns so nahe, dass wir ihren alkohol- und zigarettengeschwängerten Atem riechen können. Knapp umreißen wir unsere Geschichte.
»We wait with you! We wait with you!«, erklärt die Frau sogleich motiviert und verliert beinahe das Gleichgewicht. »Too dangerous alone. Too dangerous!« Dass sie uns im Ernstfall wirklich beschützen könnte, bezweifle ich bei ihrem Zustand zwar stark, aber die Gesellschaft der drei locals ist in den folgenden Minuten äußerst unterhaltsam. Während die Betrunkenere der beiden Frauen vergeblich versucht, an Ricos Telefonnummer zu kommen, steht ihre Schwester kichernd am Straßenrand und winkt unentwegt ihren Onkel heran, der sich uns schließlich tatsächlich anschließt und schüchtern lächelnd an seiner Zigarre zieht.
Als Patrice, unser Vermieter, schließlich neben uns zum Stehen kommt, winken ihm die drei fröhlich zu.
»Das sind Freunde von mir«, erklärt er uns später, als wir die Straße hoch zur Unterkunft fahren. »Aber ich kenne auch einfach alle Leute in Guadeloupe.« Er grinst und wirft einen Blick über die Schulter. »Habt ihr eigentlich Hunger?«
Kurze Zeit später betreten wir mit einem Brathähnchen unter dem Arm ein großzügig geschnittenes Apartment im Erdgeschoss eines Ferienhauses. »Das ist euers«, erklärt uns Patrice, wieder mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Dann verschwindet er kurz und kommt gleich darauf mit zwei Flaschen eisgekühlten Biers zurück, »zum Anstoßen fürs Abendessen«. Todmüde, aber mit vollem Magen fallen wir schließlich in unsere weichen Betten.
Um Einkaufen zu gehen und weil wir Patrice so sympathisch fanden, machen wir uns erst nach zwei Nächten auf die Weiterreise. Dieses Mal wollen wir die drei Carbet-Fälle erwandern, die wohl berühmtesten Wasserfälle Guadeloupes. Auch wenn die Wegqualität auch hier zu wünschen übrig lässt, so kommen wir an diesem Tag deutlich besser voran als zuvor im Norden der Insel.
Den dritten und untersten der drei Fälle haben wir aufgrund seiner Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit ganz für uns alleine. Ohne die Rucksäcke klettern wir auf den letzten Metern an Wurzeln den Hang hinunter und können gleich darauf die in die Tiefe stürzenden, gewaltigen Wassermassen ganz aus der Nähe beobachten. Fasziniert klettern wir noch eine Weile auf den Steinen herum und machen uns dann auf den Weg weiter hoch.
Den zweiten Carbet-Fall lassen wir zunächst links liegen und reihen uns stattdessen in die Touristenströme in Richtung dritten Wasserfall ein. Der Weg ist hier mit Holzbohlen und Seilen ausgestattet und ein nahegelegener Wanderparkplatz erspart einem unseren mühsamen Aufstieg aus der Stadt.
Der dritte Carbet-Fall ist der Größte und vielleicht auch Beeindruckendste, aber gleichzeitig sehr überlaufen. Nach einer kurzen Mittagspause machen wir uns deshalb wieder auf den Rückweg und versuchen uns an einem Aufstieg zum La Soufrière, dem Vulkan Guadeloupes und mit seinen 167m höchsten Berg der Kleinen Antillen.
Schnell kehren wir allerdings wieder um, ist der Weg doch zu steil, zu rutschig, zu gefährlich. Eine Nationalparksmitarbeiterin, auf die wir später treffen, bestätigt uns die Richtigkeit dieser Entscheidung: »Erst letzte Woche ist dort jemand verunglückt. Geht da lieber nicht lang. Ihr könnt von der Schutzhütte aus einen Pfad auf die andere Seite des Berges nehmen und über die gängigere Westroute aufsteigen. Der Zubringerpfad ist eigentlich gesperrt, aber sollte weniger gefährlich sein als hier über die Ostroute aufzusteigen. Ihr müsst schauen: Wenn der Weg nicht mehr zu erkennen ist, müsst ihr halt umkehren. Ist schon lange keiner mehr dort langgegangen.« Gut zu wissen.
Am zweiten Carbet-Fall kommen wir mit einer Gruppe französischer Touristen ins Gespräch, die sich mit großem Interesse von unseren Wanderabenteuern berichten lassen. Wir begleiten sie ein Stück des Weges in Richtung Wanderparkplatz bis zu unserem Abzweig, der zur heutigen Schutzhütte führen soll. Mit ausreichend Tageslicht erreichen wir eine Stunde später die Abri de la Cisterne, von der aus man einen wunderbaren Ausblick auf das Meer haben soll – wenn es denn nicht gerade so nebelig wie heute ist.
Früh am nächsten Morgen betreten wir den Zubringerweg. Die Nationalparksmitarbeiterin hat nicht zu viel versprochen. »Hier ist wirklich schon seeehr lange keiner mehr vorbeigekommen!«, bemerke ich und schiebe mit den Handflächen das hohe Gras zur Seite. Nur sehr schwach ist eine schmale Spur durch das dichte Grün erkennbar. Ein paar Mal landen wir in einer Sackgasse und müssen wieder umkehren, aus Flussbetten herausklettern und alte Erdrutschfelder überwandern. Der Boden ist aufgrund der Vegetation schlecht sichtbar und so finde ich mich nicht nur einmal mit den Füßen in knietiefen Wasserlöchern wieder.
»Ich fühle mich wie auf einer Dschungelexpedition!«, stöhne ich einmal, halb klagend, halb amüsiert, als ein weiteres Spinnennetz in meinem Gesicht kleben bleibt. »Immerhin wissen wir, dass es hier keine giftigen Tiere gibt«, überlegt Rico. »Wenn es hier Schlangen geben würde, würd’ ich mich nicht in dieses mannshohe Gras begeben. Die müsste nur einmal zuschnappen!«
Irgendwann tauchen auf dem Boden die Überreste einer längst vergessenen Straße auf und kurz darauf erreichen wir den Rand der Cisterne, einem alten Vulkankrater, in dem ein See liegt. Hier begegnen wir zum ersten mal an diesem Tag wieder ein paar Menschen, die über verschiedene Ausläufer der Westroute aufgestiegen sind. Etwas weiter oben stehen wir plötzlich vor einem großen gelben Warnschild. »Attention, danger de mort!«, prangt in großen Lettern darauf. Etwas ratlos stehen wir davor. Was jetzt? Ein Guide einer sich nähernden Gruppe klärt uns auf: Dies ist ein Zugang zum Vulkan, der nur mit Führer und Gasmaske betreten werden darf. Aufgrund der austretenden, giftigen Dämpfe ist es für alle anderen Wanderer verboten, hier langzugehen. Er zeigt uns den richtigen Aufstieg.
Zwei Stunden später stehen wir mit Dutzenden von anderen Wandern am Rand des La Soufrière und sehen… nichts. Es ist zu nebelig und ohne Gasmaske darf man die wirklich interessanten Gebiete des Vulkans überhaupt nicht betreten. Was für eine Enttäuschung! Auf dem Rückweg besorgen wir uns bei einer weiteren Führerin die Nummer eines englischsprachigen Guides – vielleicht wäre das noch einmal was für eine andere Tour.
Kurz vor dem Wanderparkplatz des Westaufstiegs erwartet uns dann noch eine angenehme Überraschung: heiße Quellen, die von der Wärme des Vulkans gespeist werden, säumen den Weg und laden zum Verweilen ein. Wir gönnen uns ein Bad in dem Becken und finden: Genau der richtige Ausklang unserer Wanderung.
Mit einem Franzosen aus Grenoble trampen wir vom Wanderparkplatz in die Stadt Basse-Terre, essen dort den schlechtesten Hamburger unseres Lebens und hitchen anschließend mit Robinson, einem aufgeweckten Zehntklässler, der Anwalt werden möchte, und seinem Vater nach Bouillante. »Ja, das Bussystem ist sehr schlecht«, bestätigt uns auch Robinson. »Meistens trampe ich von der Schule nach Hause. Ansonsten komme ich da ewig nicht an.«
Zurück bei Natalie versuchen wir, einen Schlafplatz im Tikazalou oder einer anderen Jugendherberge zu bekommen, können allerdings niemanden erreichen. Weil es bereits dunkel wird und damit auch das Hitchhiken auf weitere Strecken flachfällt, entscheiden wir uns dazu, eine Nacht am Strand zu verbringen. Am Plage Malendure gäbe es sogar einen breiten Hochstand, bekommen wir den Tipp. Kurzerhand lassen wir unser Gepäck weiterhin in der Pension und laufen mit unseren Schlafsachen zum nahegelegenen Strand, kochen Abendessen und rollen schließlich unsere Isomatten und Schlafsäcke auf dem Holzboden des Strandwächterturms aus. Als es in der Nacht zu regnen anfängt, lauschen wir zufrieden dem Prasseln der Regentropfen, die auf der Überdachung unseres Schlafplatzes aufschlagen. Gemischt mit dem Rauschen der Wellen, die am Strand anrollen, falle ich schnell in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen stoßen wir nach dem Zusammenpacken fast mit Jean, Natalies Mann zusammen, der hier jeden Morgen einige Kilometer »Strandgehen« durchzieht. Dann geht es zurück ins Karukera Sunset. Ein letztes Mal genießen wir den Ausblick aus dem Wohnzimmer und verabschieden uns herzlich von Natalie und Jean. Und ihren inzwischen 8 Katzen. Und dem Hund. Und den Hühnern, die unter dem Haus leben. Und, und, und…
In einer empfohlenen Bäckerei kredenzen wir ein ausgefallenes Frühstück und machen uns anschließend auf den Weg zurück in den Norden. Inzwischen hat sich Lou zurückgemeldet – Natürlich können wir kommen, am liebsten sofort. Mit Janík trampen wir bis nach Point Noire, von dort aus erwischen wir per Zufall einen Minibus, dessen Fahrerin uns freundlicherweise über die Endhaltestelle Ferry hinaus bis zum Hostel mitnimmt.
»Merci, merci!«, rufen wir ihr noch hinterher, dann betrachten wir den weißen Gartenzaun. Ein Briefkasten hängt etwas schief daran. Tikazalou steht dort in blasser Schrift geschrieben. Dahinter steht ein grellroter Bauwagen. Ansonsten sieht das Grundstück ganz normal aus. Nichts deutet auf ein Hostel hin. Fragend schauen wir uns an. »Sind wir hier richtig?«
Einen Anruf später erscheint ein gut gelaunter Mann mit Rasterlocken auf der anderen Seite des Gartenzauns. Er breitet die Arme aus und lächelt. »Welcome in Tikazalou!«
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