Irland
September 2023
Irland. Die grüne Insel. Regen. Schafe. 5 Millionen Einwohner. Dublin.
Bereits 2020 wollte ich mit meinen Dresdener Cousinen Lisa und Anna dorthin. Unser erster gemeinsamer Auslandstrip sollte es werden, nachdem wir bereits zusammen den Elberadweg geradelt und über die bayrischen Alpen gewandert sind.
Corona macht uns zuerst einen Strich durch die Rechnung, später sind es die unterschiedlichen Ferienzeiten. Im Dezember 2022 wagen wir uns ein weiteres Mal an die Planung und schließlich stehen 21 Tage im September fest. Ein wenig Zweifel habe ich vorher schon – immerhin hatte ich ursprünglich geplant, im September auf meine Südamerika-Reise zu starten. Dass das ohnehin nicht hingehauen hätte, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.
So starten wir am 5. September frühmorgens auf dem Berliner Flughafen Richtung Dublin – mit ein Grund dafür, dass wir nach dem beinahe verpassten Flug die 5-stündigen
Busfahrt von Dublin nach Killarney gänzlich verschlafen.
Aus meinem Tagebuch: Lisa und Anna sind gestern in Berlin angekommen. Der Abend wurde zum hin- und herpacken genutzt, damit wir die Gepäckvorgaben erfüllen – tun wir sowieso nicht, denn die Maße der Wanderrucksäcke wollen sich nicht mit dem Regelwerk vertragen.
Auf dem Zeltplatz in Killarney bauen wir zum allerersten Mal mein bisher brandneues Zelt auf – das drum kurzerhand auf den Namen Killi getauft wird – und fallen todmüde ins Bett… auf die Isomatten.
Am nächsten Morgen erkunden wir den etwa 200 Jahre alten Ort und seine Ruine, werden an der Kathedrale direkt von den Zeugen Jehovas angeworben und holen schließlich unsere Rucksäcke vom Zeltplatz ab, um mit dem Bus nach Killorglin und später nach Glenbeigh zu fahren. Der Mann an der Rezeption erzählt mir, dass ein „Kill“ in einem Ortsnamen irische Wurzeln hat und zumeist auf einen See hinweist – so wie Killarney am Lough Leane liegt.
In Glenbeigh, einem idyllischen Küstenort, lernen wir auf dem Campingplatz Laura kennen. Sie skippt direkt den Small Talk, als wir im Küchenhaus auf sie treffen, und steigt mit »Ähmm, was denkt ihr eigentlich über Schmerz?“ in unsere Unterhaltung ein. Auch im weiteren Gesprächsverlauf gibt sie sich äußerst offenherzig und erzählt uns vom Universum und ihrer Affäre mit dem Hauptdarsteller einer Serie, in der sie vor 20 Jahren mitgespielt hat.
In der Hafenstadt Dingle auf der gleichnamigen Halbinsel zelten wir auf der Wiese neben dem Rainbow Hostel – eine Kombination, die uns auf der Reise am besten gefallen wird, sind doch die Campingplätze um diese Jahreszeit bereits leer (zumindest was Zelte angeht) und meist etwas einsam. In den Hostels hingegen campen wir vergleichsweise preiswert, dürfen die Hostelküche und die Gemeinschaftsräume aber nichtsdestotrotz mitnutzen. Auf diese Weise schließen wir die ein oder andere Bekanntschaft und können uns austauschen.
In John Benny Moriarty’s Pub in Dingle quatschen wir mit ein paar Kanadiern, lauschen der Livemusik und probieren unser erstes (und letztes, vermute ich) Guinness.
Generell haben wir zuweilen das Gefühl, mit mehr Amerikanern, Kanadiern und Franzosen zu sprechen als mit Iren. Besonders später in Connemara sind Letztere zahlreich anzutreffen.
Am nächsten Tag muss Anna aus gesundheitlichen Gründen leider abreisen. Aus diesem Grund nur noch zu zweit, machen wir uns auf den Weg, eine Tagesetappe des Dingle-Ways zu laufen, die uns im Nieselregen über Straßen, Strände und Feldwege führt. Unterwegs verlieren wir einmal den Weg, als wir eine Abzweigung verpassen und plötzlich in einer durchs Meer begrenzten Sackgasse stehen.
Zwei vorbeikommende Irinnen bezeichnen uns bei einer Pause als „two lovely pixies!“ und am Abend nehmen wir nach einem Besuch an einer Feen- und Elfenstätte und einem riesigen Klippenstrand an der westlichsten Bar Irlands den Minibus zurück nach Dingle zum Hostel. Eine schöne Tour, deren ganzer Weg mit Sicherheit sehenswert ist.
Über Tralee, Limerick und Ennis erreichen wir per Bus das Fischerdorf Doolin, berühmter Ausgangspunkt zu den Cliffs of Moher und den Aran Islands. Wieder campen wir im Garten eines Hostels, direkt am Fluss.
Zwar fährt ein Bus von Doolin bis zum Visitor Centre der Cliffs of Moher, doch wer hier aussteigt, muss damit rechnen, für den Anblick der Klippen sogleich ein Ticket bezahlen zu müssen.
Aus diesem Grund – und weil wir den Touristenströmen ausweichen wollen – fahren wir einen Ort weiter nach Liscannor und laufen die ca. 20km lange Route an den Cliffs of Moher entlang zurück nach Doolin.
Dabei werden wir in den Regenpausen mit fantastischen Blicken belohnt und erreichen am Abend durchnässt und mit Waschfrauenfüßen unser Zelt. Es regnet. Viel.
Wir schießen an einer besonders schönen Klippe Fotos voneinander. Ein Pärchen nähert sich und fragt: „Should we take a picture of you?“ Wir nicken erfreut und unterhalten uns einige Minuten mit den beiden auf Englisch.
„Where are you from?“, fragen sie irgendwann.
„Germany“, antworten wir.
„Oh. Dann können wir ja auf Deutsch reden.“
Stefan und seine Frau kommen aus München, stellt sich heraus. Wir lachen herzlich und setzen den Weg für einige Kilometer mehr oder weniger gemeinsam fort.
Die letzte Etappe wird noch einmal sehr anstrengend.
Unsere verschrumpelten Füße reiben sich in den nassen Wanderschuhen auf, es regnet, es ist nebelig, wir sind erschöpft… kurzum, wir können unser Glück kaum fassen, als endlich das Hostel und unser gemütliches kleines Zelt in Sicht kommen. Den Abend verbringen wir im Gemeinschaftsraum des Hostels beim Lesen, Schreiben und Quatschen mit Sina und Andrea, zwei weiteren deutschen Backpackerinnen aus der Nähe von Heidelberg.
Am nächsten Tag strahlt die Sonne vom kaltblauen Himmel und scheint unsere Entscheidung, den gestrigen Regentag zum Wandern genutzt zu haben, zu verhöhnen.
Wir nehmen den Bus nach Lisdoonvarna, einer nahegelegenen kleinen Ortschaft. Hier findet jedes Jahr im September für einen ganzen Monat das Matchmaker Festival statt, eine Art Singlebörse in Real Life.
In Bars und Hotels kommen junge Leute hier zusammen, tanzen, trinken und lassen sich in das berühmte Buch des Matchmakers eintragen, der für sie den richtigen Partner finden wird – so die Hoffnung. Die Eltern eines Professors von Lisas Uni haben sich hier kennengelernt und er hatte uns das Festival sehr empfohlen.
Als wir aus dem Bus aussteigen, ist von jungen, heiratswütigen Leuten allerdings wenig zu sehen. Stattdessen bevölkern Rentnerpärchen den kleinen Ort mit seinen Girlanden und bunten Häusern. Wir sehen uns ratlos an. Nicht gerade das, was man vom berühmten Matchmaker Festival erwartet hat!
Schnell finden wir heraus: Die große Party findet hauptsächlich an den Wochenenden und dann natürlich in den Abendstunden statt. An einem Dienstagvormittag sind stattdessen Swing, Walzer und Foxtrott auf dem Parkett schwer angesagt.
Weil wir nun schon einmal hier sind, machen wir das Beste draus und gehen in einige der Tanzbars. Die Rentner sind allesamt wahnsinnig gute Tänzer, sodass das Zuschauen großen Spaß macht, auch wenn wir die einzigen unter 60 sind.
Im Rathbaun Hotel kommen wir ins Gespräch mit Maura und Abina, zwei Damen aus Dublin. Als sie erfahren, dass unsere Reise in Dublin enden wird und wir dort noch keine Unterkunft gefunden haben, bietet uns Abina kurzerhand an, in ihrem Gartenhaus zu übernachten. Begeistert sagen wir zu.
Einen Tag später sitzen wir auf der Fähre nach Inisheer, der kleinsten der drei Aran Islands, und erzählen einer neugierigen Gruppe Amerikaner aus San Francisco von unseren Reiseplänen. Joan und ihre zwei Schwestern sind zusammen mit ihren Ehemännern Maik, Maik und Maik (kein Scherz!) für einen Tagestrip auf die Insel unterwegs. Dafür hätten sie sich kein schlechteres Wetter aussuchen können, denn es schüttet aus Kübeln und stürmt so stark, dass unsere Fähre in den Wellen hin und hergeworfen wird.
Auf Inisheer lassen wir unsere großen Rucksäcke in einem Container am Hafen, den uns ein Kutschfahrer gezeigt hat, und machen uns zu Fuß auf den Weg zu einem berühmten Schiffswrack, das hier vor ein paar Jahrzehnten angespült wurde. Es schüttet weiter als stünde der Weltuntergang bevor und als wir uns auf den Rückweg zum Hafen machen, um unsere Fähre nach Inismore nicht zu verpassen, sind wir trotz Regenkleidung bis auf die Knochen durchnässt.
Am Hafen treffen wir auf ein junges Pärchen aus Australien. Zusammen mit ihnen und einer Gruppe Einheimischer sind wir die einzige Fahrgäste, als wir die Fähre nach Inishmore besteigen. Das ist auch gut so, denn auf der etwa halbstündigen Fahrt werde ich etliche Male von meinem Sitz geworfen, so hoch ist der Wellengang.
Durchnässt und erschöpft gehen wir auf Inishmore an Land, durchqueren Kilronan, den Hauptort, und laufen die Küstenstraße entlang zum Zeltplatz. Immer stärker müssen wir uns gegen den Wind stemmen.
Auf dem Zeltplatz erfahren wir, dass durch den Sturm der Strom ausgefallen ist und die Notgeneratoren nicht arbeiten wollen – Duschen fällt also schon mal flach. Das ist aber gar nicht so schlimm, denn wir hätten ohnehin keine trockenen Handtücher gehabt. Diese sind beim Trockenen des Innenzeltes draufgegangen, das beim Aufbauen im Regen nass geworden ist. Auch unsere Rucksäcke sind trotz Regenschutz durchnässt – die Zeltplatzküche wird irgendwann zur Trocknerei umfunktioniert, während wir an ein paar Müsliriegeln knabbern – denn das Abendessen, das haben wir in Doolin liegen lassen…
Am nächsten Tag strahlt die Sonne vom Himmel als gäbe es kein morgen. Wir leihen uns Fahrräder aus und erkunden die Insel – Robbenbänke, Kilmurvey Beach, Meenabool, das bronzezeitliche Fort Dún Aonghasa und den Friedhof der 7 Saint Churches, auf dem wir einen alten Mann treffen, der uns mit starkem Dialekt seine Lebensgeschichte erzählt.
Beim Barhopping am Abend kommen wir in Joe Watty’s Pub mit Einheimischen und Zeitarbeitern ins Gespräch, können einige Fragen loswerden, werden zum Tanzen aufgefordert und fahren spätabends in tiefer Dunkelheit (und wenn ich sage, tief, dann mein ich das auch so, denn die Mietfahrräder haben kein Licht und auf einer unbeleuchteten Straße auf einer entlegenen Insel kann man um Mitternacht keinen Funken erwarten) zurück zum Zeltplatz.
Am Morgen unserer Abreise erkunden wir den weniger bekannten Teil der Insel, wandern zu einer kleinen Kirche auf einem Hügel, sehen ein kleines Flugzeug auf dem winzigen Inselflughafen und finden auf einem Friedhof die Ruine von Teaglach Éinne, einer Kapelle des Klosters St. Enda aus dem frühen 6. Jahrhundert. Wer hier durch das Fenster über dem Altar klettern kann, so hatte es uns eine junge Kolumbianerin in Doolin erklärt, wird noch in diesem Jahr heiraten, so die Legende. Das wird natürlich sofort ausprobiert und siehe da – es funktioniert tatsächlich!
Einige Tage später wandern wir mit Connor, einem Local, durch die
Straßen Galways. Bei sogenannten Free Walking Touren erklären sich Einheimische dazu bereit, die Geheimnisse und Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt zu vermitteln – am Ende gibt jeder aus der Gruppe so viel, wie er möchte. Das Konzept ist uns neu, aber von einem Österreicher erfahren wir, dass es mittlerweile in vielen europäischen Städten praktiziert wird. Auf diese Weise bekommen wir eine Idee des Charmes von Galway, viel mehr, als wir bei einer kommerziellen Stadtführung erlebt hätten.
In einer der von Connor empfohlenen Bars treffen wir auf Anthony und Renate, einem älteren Paar aus Galway. Sie spendieren uns Cider, unterhalten sich eine halbe Ewigkeit mit uns und geben uns, als wir von unserer bevorstehenden Wandertour erzählen, ihre Nummer, sollten wir irgendwo steckenbleiben. Und das alles direkt neben einer jammenden Band! Darauf müssen mich diese schwer verstehbaren English-Listening-Comprehensions in der Schule damals vorbereitet haben.
Nach Galway wollte ich unbedingt wegen des Songs Galway Girl von Steve Earl… und die Stadt enttäuscht uns nicht. Dass unser Zeltplatz direkt im Bezirk Salthill liegt, gibt dem Zauber des Liedes nochmal einen ganz besonderen Anstrich ;)
Well, I took a stroll on the old long walk
Of a day-i-ay-iay
I met a little girl and we stopped to talk
Of a fine soft day-i-ay-i-ay
And I ask you, friend, what’s a fella to da
‘Cause her hair was black and her eyes were blue
And I knew right then I’d be takin’ a whirl
‘Round the salthill prom with a galway girl
…
Die besten Bars in Galway
The Crane Bar
Tig Chóilí
Salt House
Róisín Dubh
Tigh Neachtain
»Meinst du, wir sind hier noch richtig?«, fragt mich Lisa und folgt mit ihrem zweifelnden Blick der großen Straße, die direkt am Lough Corrib, dem größten See Irlands, entlangführt.
»Na klar«, gebe ich zurück und schreite selbstbewusst voran.
Ein paar Stunden später wird uns klar – wir haben uns verlaufen. Nach nicht einmal einer halben Stunde unserer fünftägigen Wanderroute auf dem Wild Western Way sind wir in die falsche Straße eingebogen.
Das fängt ja gut an.
Gegen Mittag sind wir in Oughterard (dessen Aussprache schon zahlreiche Iren richtig auszusprechen uns zu lehren versucht haben) gestartet, wollten gen Norden. Nun stehen wir also auf dieser großen Teerstraße und überlegen, wie wir wieder auf die eigentliche Route zurückkommen. In ein paar Kilometern sollte das möglich sein, sehen wir mit einem Blick auf die Karte. Allerdings kostet uns der Umweg einiges an Zeit, die wir eigentlich zum Suchen eines Schlafplatzes gebraucht hätten. Der Weg, auf unserer Karte umgeben von Wald, wird von zahlreichen Wohnhäusern gesäumt. Kein guter Ort zum Wildcampen.
Weil alles nicht hilft, trotten wir weiter. Jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.
Da hält mit quietschenden Reifen ein Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich überlege noch, dass das bei mehr Verkehr einen saftigen Unfall hätte geben könnten, da winkt uns die Fahrerin, eine ältere Dame, schon heran.
»Ihr Mädchen solltet hier nicht laufen«, gibt sie uns zu verstehen. »Das ist ein furchtbarer Weg. Hört zu. Ich muss ins nächste Dorf. Wenn ich zurückkomme und euch noch sehe, nehme ich euch ein paar Kilometer mit. Okay?« Das war keine Frage, sondern vielmehr eine Information und uns fällt auch nichts besseres ein, als das Angebot freudig anzunehmen.
Wenige Minuten später sitzen wir bei Amelia Joyce im Auto. Sie ist Nachfahrin des mächtigen, irischen Joyce-Clans, der früher über Connemara herrschte. Selbst ihrem Vater, erzählt sie uns, gehörte noch nahezu die Hälfte des Countys. Heute kann man den Familiennamen in Joyce’s Country, einem gebirgigen Bezirk an der Grenze zwischen Nord-Galway und Süd-Mayo, wiederfinden.
Amelia selbst ist, und wir trauen unseren Ohren kaum, als sie uns das erzählt, Wanderbuchautorin, 86 Jahre alt. Im Kofferraum liegen einige ihrer Werke. Sie schenkt uns eines davon und fährt uns zurück nach Oughterard. Als sie hört, dass wir den Wild Western Way laufen wollen (»Dieser Weg ist ein Witz. Ihr werdet nichts sehen«) legt sie uns eine andere Strecke ans Herz.
Am frühen Abend werden wir in Recess von einem Bus, der auf keinem Fahrplan stand, ausgespuckt und tauchen in das Lough Inagh Valley ein, das mit seinen rotbraunen Hügeln, den Seen und Wäldern (und Schafen!) ganz Connemara in sich zu vereinen scheint.
Weit kommen wir allerdings nicht. Schwere Regenfälle wurden für die Nacht angesagt, daher suchen wir uns in einem Wäldchen oberhalb der Talstraße ein kuscheliges Plätzchen für unser Zelt. Amelia hatte uns noch ein paar Tipps für tolle Campingspots mit auf den Weg gegeben und mit ihrem Namen dafür gebürgt – sollte irgendjemand kommen und etwas dagegen sagen, dass wir wildcampen, sollen wir einfach ihren Namen nennen und das wird klargehen, hatte sie uns versichert. Ob das wirklich geklappt hätte, erfahren wir nie – beim Campen bleiben wir stets allein.
Am Nachmittag des nächsten Tages ist der Zauber des Tales gänzlich verflogen – es schüttet aus allen Kübeln, wir sind durchnässt, erschöpft und heftige Windböen drängen uns zusehends von der Straße ab. Am Vormittag hatten wir noch von einem Reisebusfahrer zwei Wasserflaschen in die Hand gedrückt bekommen, zur Mittagszeit waren wir in einem altenglischen Hotel mitten im Tal zum Teetrinken. Jetzt aber wollen wir einfach nur noch hier raus und einen Schlafplatz finden – auch wenn wir noch nicht wissen, wie und wo wir in diesem Unwetter unser Zelt aufstellen sollen geschweige denn kochen können.
Und wieder kommt das Glück um die Ecke. Leise, ohne Vorwarnung, diesmal in Form einer jungen Frau mit Auto, die neben uns hält. »Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit, Mädels?«, ruft sie uns zu. Wir nicken kläglich.
Keine halbe Stunde später stehen wir vor dem Old Monastery Hostel in Letterfrack und fragen nach einem Schlafplatz.
Das Old Monastery Hostel wurde ursprünglich 1940 von den Quäkern erbaut und 1990 von Stephen Gannon als Hostel eröffnet. Das weitläufige Landhaus hat sich mit seinem gemütlichen Wohnzimmer, den ausgefallenen Wandtapezierungen, den Büchern in wirklich jedem Raum (sogar im Badezimmer!) und der ruhigen Atmosphäre seinen wohlverdienten Ruf als gastfreundlicher und herzlicher Ort verdient. Zum Frühstück gibt es selbstgebackenes Brot und Porridge mit ebenso selbstgemachter Marmelade. Die Menschen sind vielseitig wie aufgeschlossen und kommen aus allen Ecken der Welt.
Dabei ist zunächst überhaupt keine Seele da. Stattdessen stehen wir vor einem Schild, das uns mitteilt, nicht in Panik zu verfallen und es uns gemütlich zu machen. Irgendwann komme schon jemand.
Wir schlüpfen also aus unseren nassen Sachen und werfen uns in die Sessel des rustikalen Wohnzimmers. Nach und nach kommen die ersten Gäste von ihren Ausflügen zurück und irgendwann können auch wir uns anmelden und zwei Betten beziehen.
Den Abend verbringen wir mit Lizzie aus Berlin und Katta & Annika aus der Nähe von Rosenheim im Wohnzimmer, schreiben, stricken, quatschen und trinken Tee. Die Atmosphäre im Old Monastery Hostel gefällt uns so gut, dass wir am nächsten Morgen Stephen fragen, ob wir noch eine Nacht bleiben können – am liebsten für immer ;)
Am Vormittag desselben Tages trampen wir zusammen mit Lizzie zur Kylemore Abbey – nachdem das Daumen-Herausstrecken nichts gebracht hat, malen wir irgendwann ein Schild und sitzen keine fünf Minuten später auf lauter Aktenordnern im Auto einer schwerbeschäftigten Frau, die über die Freisprechanlage mit ihrer Arbeit telefoniert.
Kylemore Abbey ist ein ehemaliges Schloss, das kurz nach dem zweiten Weltkrieg von den Benediktinerinnen übernommen wurde, die daraus ein Mädcheninternat machten. Amelia, die Frau, die uns nach Letterfrack fuhr und die Tochter des Ehepaars, das uns später wieder vom Schloss zum Hostel mitnimmt, waren allesamt auf dieser Schule, die idyllisch an einem riesigen See liegt und einen herrlichen Schlossgarten beherbergt.
Am Abend steigen wir noch auf den weitbekannten Diamond Hill im Connemara Nationalpark und genießen den Ausblick über die herbstlich gestimmten Berghänge Connemaras, die in der Abendstimmung orange leuchten.
Das Old Monastery Hostel wird uns als unser Lieblingsort in Irland in Erinnerung bleiben – eine kleine, unverhoffte Oase.
Wir stehen wieder an der Straße. Dieses Mal wollen wir mit den Backpacks nach Leenaun trampen, um von dort aus durch das Doolough Valley nach Delphi laufen.
Ein Einheimischer erzählt uns die Geschichte hinter dem Ort: Delphi wurde von einem weitgereisten Iren gegründet, der Gefallen an den griechischen Sagen und Götterwelten gefunden hatte. Heute ist es ein winziges Dorf, dessen Häuser an einer einzigen Straße über mehrere Kilometer verteilt sind.
Das Trampen zieht sich hin – die großen Backpacks schrecken die kleineren Autos ab –, aber irgendwann quietschen hinter uns die Reifen, eine Autotür wird aufgestoßen und eine Frauenstimme ruft aufgeregt: »Lisa! Rebecca!«
Verwundert drehen wir uns um.
Es sind Ann und Michael, die wir gestern auf dem Parkplatz von Kylemore Abbey wegen einer Rückfahrgelegenheit nach Letterfrack angesprochen hatten. Heute sind sie auf dem Heimweg in die andere Richtung unterwegs und haben uns am Straßenrand stehen sehen. Wir stopfen unsere Backpacks mehr schlecht als recht in den Kofferraum und uns auf die Rückbank – Ann und Michael freuen sich ein Loch in den Bauch, uns wiedergetroffen zu haben.
Bereits eine Stunde später sitzen wir vor den Aasleagh Falls, beobachten einige Touristen, die über die Mauer gestiegen sind, um Fotos zu machen und knuspern an unserem Mittagessen. Es ist frisch, von Zeit zu Zeit zieht leichter Nieselregen auf und leichte Frustration über den sich hinziehenden Weg um Irlands einzigen Fjord kriecht in unsere Gemüter.
Dann aber macht die Straße endlich einen Knick und wir tauchen in das wundervolle wie geschichtsträchtige Doolough Valley ein. Während der großen »Kartoffelhungersnot« in Irland durchquerten hunderte verhungernde Menschen dieses Tal auf dem Weg zu den Reichen, die hier residierten. Doch die Oberen wiesen sie zurück, ohne ihnen zu Essen zu geben. Auf dem Rückweg starben zahlreiche Iren an ihrem Leid. Noch heute erinnert ein Denkmal an diese armen Seelen – für uns ist es heute das Ziel.
Vorher werden wir jedoch nach einigen Stunden Wanderung von heftigen Regenfällen überrascht. Eine Einwohnerin, die uns entlang des Fjordes einige Kilometer weit mitgenommen hatte, hatte uns bereits von den festhängenden Wolken erzählt, die das Tal mit einer undurchdringliche Regendecke bedecken. Der Regen hüllt uns in Schweigen und nasse Schuhe – es geht nur langsam voran, und das Ziel ist noch lange nicht in Sicht.
Ein flotter Sportwagen hält neben uns. So einer, dessen Rückbank gleichzeitig den Kofferraum darstellen soll. Alisa aus Frankreich und Izzy aus Wales arbeiten in der Delphi Lodge und sind auf dem Weg nach Louisburgh. Sie bieten uns an, uns ein Stück mitzunehmen. Zweifelnd schaue ich auf das kleine Auto, aber Alisa winkt lachend ab. »Das passt schon.«
Ich weiß bis heute nicht wie, aber irgendwann sitzen unsere Backpacks auf der Rückbank, ich auf den 10cm daneben, Lisa auf meinem Schoß. Die folgenden 15min Fahrt ersparen uns 2h Laufen – es dauert nicht lange, da biegen wir auf den Haltepunkt des Denkmals ab. »Oh, Franzosen!«, freut sich Alisa, als sie das Kennzeichen eines der dort haltenden Autos sieht. Ich quetschte meinen Kopf zwischen Lisas Rücken und der Autowand hervor und mustere die beiden Frauen nachdenklich.
»Die kennen wir!«
Es sind Magali und Bettina, die wir bereits im Old Monastery Hostel kennengelernt haben. Die beiden freuen sich sichtlich, uns wiederzusehen und geben mir ihre Nummer, sollte ich während meiner Reise nach Südamerika in der richtigen Ecke von Frankreich vorbeikommen. Zwei Monate später werde ich vor Magalis Tür in der Nähe von Lourdes stehen und dieses Angebot in Anspruch nehmen.
Bald sind wir alleine am Denkmal und machen uns auf die Suche nach dem Schlafplatz, den Amelia uns empfohlen hatte: »Schaut von dem Denkmal die Straße zurück. Auf der rechten Seite werdet ihr ein Tor sehen. Dort könnt ihr durchgehen, das Land gehört O’Malley, den kenne ich. Wenn jemand kommt, sagt ihr, ihr seid Freunde von mir. Das passt schon. Folgt dem Feldweg und ihr werdet an einen wunderschönen Lagerplatz direkt am See gelangen. Es ist verrückt, ein unvorstellbarer Ort.«
Tatsächlich finden wir den beschriebenen Ort, auch wenn uns ein wenig unwohl dabei ist, durch das Tor, auf dem ein Schild unmissverständlich den Zutritt verbietet, zu gehen.
Was Amelia uns allerdings scheinbar vergessen hat, ist der Zustand der Wiese, die um diese Jahreszeit vom Regen geradezu durchtränkt ist.
Letztendlich campen wir also quasi im See. Zusätzlich zieht, während ich koche, ein weiteres Unwetter auf und um das Fass zum Überlaufen zu bringen hat unsere Benzinflasche ein Leck und durchtränkt Lisas Isomatte mit Gestank. Am Abend ist uns kalt, wir sind nass, erschöpft und können wegen des Benzingestanks kaum schlafen.
Aber in einem hatte Amelia Recht – der Ausblick ist gigantisch.
Am nächsten Tag verlassen wir das Tal und wandern nach Louisburgh, einer Kleinstadt an der Küste. Weil wir eine Nacht länger im Old Monastery Hostel geblieben sind, sparen wir uns die Route nach Westport und nehmen stattdessen den Bus. Am Bahnhof von Westport fragen wir nach den Zügen am nächsten Tag. Von hier aus starten wir nach Dublin, die letzte Etappe unserer Reise. Die Landschaft fliegt an uns vorbei und wir landen gegen Mittag in Red Cow, wo wir von Abina abgeholt werden.
In Carrigwood, wo Abina in einem kleinen Einfamilienhaus wohnt, begrüßt uns eine große Gruppe von Menschen, die gerade zu Besuch sind. Die Enkelkinder helfen uns dabei, unser nasses Zelt im Garten aufzuhängen und Abinas Tochter schmiedet einen Masterplan für unseren Besuch in Dublin.
Die nächsten 48 Stunden verbringen wir im National Art Museum (kostenlos für jeden!), im Hauptbezirk Temple Bar, am Castle of Dublin, im Trinity College und der berühmten Bibliothek dort, in den kleinen, versteckten Bars, auf einem Kunstfestival und in Abinas Wohnzimmer, wo wir zu alten ABBA-Schallplatten tanzen und Konzertina und Klavier spielen.
Abina ist eine großartige Gastgeberin, bekocht uns, quatscht mit uns, zeigt uns ihr Leben und bringt uns schlussendlich zum Flughafenshuttle, nicht, ohne uns vorher zwei Tüten mit Mittagessen in die Hand zu drücken. Wir sind gerührt und sehr dankbar, sie getroffen zu haben. Die Einladung, wiederzukommen, steht.
Und dann verlassen wir Irland, diese grüne Insel. Die vergangen Wochen waren intensiv und voller Überraschungen. Eine fordernde Reise, die uns gleichzeitig die schönsten Momente bescherte. Und wie mein Vater schon sagte: »Ach herrlich. Ich beneide euch so. Da werden Erinnerungen an früher wach. In England: als wir klitschnass waren nach einem Wolkenbruch und uns auf die Schlafsäcke gefreut haben. Aber im Zelt war auch alles nass. Nicht mal der Kocher funktionierte und wir löffelten die Dosennahrung kalt. Oder in Schweden, wo es ständig regnete und wir jeden Tag das Zelt nass auf- und abbauen mussten. Wie beneide ich euch. So muss Urlaub sein.«
:) :) :)
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